Das Geheimnis des Felskojoten (German Edition)
hört«, bohrte sie nach, »die machen dir wohl auch keine Angst?«
Shane ließ die Zeitung sinken.
»Erdbeben sind ein Teil der Natur, Reena. Sieh dir doch bloß einmal an, was die Menschheit unserer Erde angetan hat. Es ist nur verständlich, dass die Natur und die Spirits sich irgendwann zur Wehr setzen. Und ich denke, das genau ist es, was im Augenblick geschieht.«
»Du meinst, eure Geister versuchen sich zu rächen für all die Ungerechtigkeiten, die die Menschen der Erde angetan haben?«
Shane zuckte mit den Schultern.
»Mein Volk glaubt, dass die Welt, die wir alltäglich sehen – nennen wir sie die greifbare Welt –, und die Welt der Geistwesen wie ein Spiegel sind. Beide können nur miteinander bestehen. Herrscht Gewalt in der greifbaren Welt, werden keine Kinder mehr geboren, und hört sie deshalb auf zu existieren, so kann in der Folge auch die Welt der Geister nicht bestehen bleiben.«
Serena hatte über das Gespräch ihre Flugangst vollkommen vergessen.
»Spielt die Familie bei deinem Volk eine große Rolle?«, fragte sie. »Es hört sich für mich so an.«
»Die größte Rolle«, bestätigte Shane. »Es ist die Familie, die die alten Bräuche am Leben hält, und es ist der Familienname, den man in Ehren hält. Sich um die Familie zu kümmern, ist für uns das Wichtigste überhaupt.« Er machte eine kurze Pause. »Ich glaube fest daran, dass ein Mensch die Welt um sich herum nur dann verstehen kann, wenn er sich selbst versteht. Und um sich selbst zu verstehen, muss er seine Wurzeln kennen. Die Familien sind unsere Wurzeln. Die Geschichte unserer Familien ist sehr eng verbunden mit der Geschichte unseres Volkes und unseres Landes. Kennen wir sie, dann können wir uns selbst viel besser verstehen, wie wir handeln, wie wir denken.«
»Ich glaube, du hast recht«, sagte Serena nach einer Weile. »Das, was wir aus der Vergangenheit lernen, bestimmt unsere Zukunft.«
»Und sieh nur«, sagte Shane, »über unsere Unterhaltung hast du das Geruckel des Flugzeugs ganz vergessen. Jetzt haben wir unsere endgültige Flughöhe erreicht, und alles hat sich beruhigt.«
»Aber wir müssen auch noch landen«, gab Serena zu bedenken.
»Ein Unwetter in Montana muss nicht unbedingt bedeuten, dass es auch in Calgary stürmt. Vielleicht werden wir eine ganz angenehme Landung haben.«
Serena seufzte tief und wünschte sich nichts sehnlicher, als dass sie bereits wieder festen Boden unter den Füßen hätte. Aber es blieb ihr nichts anderes, als sich in ihr Schicksal zu fügen. Also schloss sie die Augen und lehnte sich an Shanes Schulter.
»Schon 16 Uhr vorbei«, stellte Serena fest und nahm ihre Reisetasche vom Rollwagen. »Ich hätte nicht gedacht, dass man auf so einem kleinen Flughafen zwei Stunden lang bei der Passkontrolle anstehen muss.«
»Es wäre viel schneller gegangen, wenn du einen kanadischen Pass hättest«, scherzte Shane.
»Sehr witzig«, erwiderte Serena und schob sich an einem weiteren Rentner mit rotem Hemd und weißen Cowboyhut vorbei. »Hier wird wirklich an Personalkosten gespart. Der Flughafen wimmelt nur so von freiwilligen Helfern im Pensionsalter.«
Sie kamen an einem Geschäft vorbei. Serena warf nur einen kurzen Seitenblick hinein.
»Diese vielen Cowboyhüte …«
»Soll ich dir einen kaufen?«, neckte Shane sie.
»Nein, danke. Ich glaube, so ein Ding steht mir überhaupt nicht. Aber mal im Ernst. Warum werden hier nicht mehr indianische Sachen verkauft? Ihr lebt schließlich auch in Alberta.«
»Indianer sind hier lediglich Bürger zweiter Klasse«, erklärte Shane ohne Zorn. »Das wirst du noch feststellen.«
Sie verließen das Flughafengebäude und steuerten auf den Parkplatz zu, auf dem Shanes Wagen stand. Es war warm und sonnig, und ein frischer Wind wehte.
Serena blickte über das weite, flache Land.
»Ah, zurück in der Prärie. Und auch der Wind ist wieder da. Hier weht wohl ständig eine Brise?«
»Immer«, erwiderte Shane grinsend. »Dafür ist die Prärie berühmt. Der Wind sorgt für tiefe Falten und eine schön ledrige Haut.«
»Wunderbar«, meinte Serena spöttisch. »Wo ist denn nun dein Auto?«
»Gleich hier drüben. Aber schau dir zuerst die Berge an.«
Serenas Blick folgte seiner ausgestreckten Hand. Schroffe, in blauen Dunst gehüllte Bergketten erhoben sich im Westen aus dem flachen Land. Ihre scharfkantigen, schneebedeckten Gipfel ragten bis weit in den Himmel. Es war ein großartiger Anblick.
Serena stockte der Atem.
»Die Rocky Mountains«,
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