Das Geheimnis des Feuers
Sofia sehr selten schrie.
Doktor Raul beugte sich tief über sie. »Nicht nur dein eines Bein ist weg«, sagte er. »Wir mussten dir auch das andere abnehmen. Sonst könntest du nie mehr gesund werden. Aber ich versprech dir, dass du zwei schöne künstliche Beine bekommst. Und du wirst wieder gehen können, Sofia. Das verspreche ich dir. Du bekommst zwei neue Beine. Sie werden deine besten Freunde sein für den Rest deines Lebens.« Er betrachtete ihr Gesicht. »Hast du verstanden, was ich gesagt habe?«, fragte er. Sofia ließ ihn nicht aus den Augen. Mit ihrer anderen Hand tastete sie ihren Körper ab. Ihr zweites Bein war auch weg. Sie sah Doktor Raul an. »Ich will meine Beine wiederhaben«, sagte sie. »Du bekommst neue Beine«, antwortete Doktor Raul. »Ich will keine neuen«, sagte sie. »Ich will meine alten haben.« Dann konnte sie nicht mehr sprechen. Die Schmerzen wurden zu groß. Eine Krankenschwester gab ihr etwas zu trinken. Bald schlief sie wieder.
In Sofias unruhigen Träumen lebte Maria. Aber die Bilder waren zerschnitten und verworren. Das weiße Kleid hing auf José-Marias Wäscheleine. Dort hingen viele weiße Kleider, aber keine Laken. Totio trat seine Nähmaschine. Lydia stampfte Körner. Die ganze Zeit suchte Sofia nach Maria. Immer war sie verschwunden, immer war sie unsichtbar. Sie wusste, dass Maria da war. Aber sie konnte sie nicht sehen.
Manchmal, wenn sie erwachte, waren die Schmerzen fast ganz weg. Wenn sie still dalag, ohne sich zu rühren, fühlte es sich fast an wie früher. In diesen Augenblicken, wenn die Schmerzen für eine Weile aufhörten, dachte sie, dass sie mit José-Maria reden müsste. Sie würde ihm erzählen, dass sie es gewesen war, die das Laken gestohlen hatte. Wenn sie es gestand, würde er ihr sicher helfen, ihre alten Beine zurückzubekommen. Er kam mehrere Male in der Woche zusammen mit Mama Lydia ins Krankenhaus. Häufig kam er dann allein in ihr Zimmer, bevor er Lydia holte, die draußen auf dem Flur wartete.
Als er sie das nächste Mal besuchte, sagte sie ihm die Wahrheit. Zuerst glaubte er, sie rede im Fieberwahn. Von was für einem Laken sprach sie? Einem weißen Kleid für Maria? Dann begriff er, dass sie ein Laken von seiner Wäscheleine gestohlen hatte. Daraus war ein weißes Kleid für Maria geworden, die jetzt tot war. José-Maria erinnerte sich an die Reste von weißem Stoff an Marias Körper, als sie vornübergefallen auf dem Pfad gelegen hatte, nachdem die Mine explodiert war. Aber er hatte nie bemerkt, dass ein Laken verschwunden war. Er sah Sofia an, dass sie Angst hatte. Deswegen war es wichtig, dass er ihre Worte ernst nahm. »Das macht nichts«, sagte er. »Denk jetzt nicht daran.«
»Vielleicht könnte ich jetzt meine Beine wiederhaben«, sagte Sofia. José-Maria war gerührt. Vor ihm im Bett lag ein sonderbares Mädchen, klein und blass. Ihm fiel auf, dass auch schwarze Menschen vor Sorge und Schmerz blass werden konnten.
»Du wirst neue Beine bekommen«, sagte er. »Deine alten Beine konnten einfach nicht mehr.« Dann ging er hinaus in den Flur und holte Lydia. »Sie weiß, dass ihre beiden Beine weg sind«, sagte er zu ihr. »Denk dran, dass sie neue Beine bekommt.« Lydia saß auf dem Fußboden im Flur, der voller Menschen war. »Wie soll sie das schaffen?«, jammerte sie. »Wir sind so arm.«
»Zuerst muss sie gesund werden«, sagte José-Maria. »Dann denken wir an die Zukunft. Geh jetzt zu ihr hinein! Weine nicht. Schrei nicht. Erzähl ihr, wie das ganze Dorf daraufwartet, dass sie wieder nach Hause kommt.«
Lydia fiel es immer gleich schwer Sofia zu besuchen. Ihr gepeinigtes Gesicht zu sehen, daran zu denken, dass unter dem Laken keine Beine mehr waren. Lydia dachte, sie könnte nichts tun. Und wie sollte das Leben hinterher werden? Mit Sofia ohne Beine zu Hause im Dorf? Manchmal dachte sie, dass sie alles im Leben verloren hatte. Einmal war sie jung gewesen, genauso jung wie Sofia. Sie hatte Hapakatanda kennen gelernt, sie hatten ein gutes Leben zusammen gehabt. Dann waren die Banditen aus der Dunkelheit gekommen und alles hatte sich verändert. Danach waren sie auf der Flucht gewesen. Als sie geglaubt hatte, sie könnte endlich ein neues Leben zusammen mit ihren Kindern aufbauen, geschah das Furchtbare. Würde es nie ein Ende nehmen? Sollte ihr ganzes Leben nur aus Sorge und Schmerz bestehen?
Sofia freute sich immer, wenn Mama Lydia kam. Sie wünschte, sie wäre nie allein in diesem Zimmer. Sie konnte selbst nicht viel reden.
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