Das Geheimnis des Feuers
ihr. Aber sie konnte sie nicht sehen. Sie lauschte, während sie schaukelte. Jetzt hörte sie es ganz deutlich. Maria rief nach ihr.
Mit einem Ruck tauchte sie an die Oberfläche. Immer noch brannten die Feuer in ihr. Es tat so furchtbar weh. Aber sie schlug die Augen auf. Sie wusste nicht, wo sie war. Das Zimmer war fremd. Das war nicht die Hütte. Nackte, hohe weiße Wände. Von einer Tür fiel schwacher Lichtschein ins Zimmer. Als sie den Kopf drehte, vorsichtig, denn jede Bewegung tat so weh, sah sie eine weiß gekleidete Frau auf einem Stuhl am Fenster sitzen. Das Kinn war ihr auf die Brust gesunken. An der weißen Haube erkannte Sofia, dass es eine Krankenschwester war. Sie schlief. Sofia drehte wieder den Kopf. Neben ihrem Bett war noch ein Bett und dort lag Maria. Das Licht von der Tür fiel in ihr blasses Gesicht. Plötzlich schlug Maria die Augen auf und sah sie an. »Ich will nach Hause, Sofia«, sagte sie. »Ich hab solche Schmerzen.« Sofia streckte den Arm aus, obwohl die Schmerzen an ihr zerrten. Aber sie wusste, dass sie es tun musste. Sonst würde Maria aufstehen und gehen. Sie würde allein zurückbleiben. Abgesehen von der schlafenden Frau am Fenster wäre sie der letzte Mensch auf der Erde. Ihre Hand reichte bis zu Maria. Sofia berührte sie. »Es tut so weh«, sagte Maria. »Ich will nach Hause.«
»Es ist Nacht«, sagte Sofia. »Morgen gehen wir nach Hause.« Aber Maria richtete sich auf. »Ich geh jetzt nach Hause«, sagte sie. Dann legte sie sich wieder hin. Sie sah Sofia an. Dann schloss sie die Augen.
Im selben Augenblick wusste Sofia, dass Maria starb. Ihre Hand zuckte. Dann war sie fort. Sofia schrie. Die Frau am Fenster erwachte und erhob sich. Sie machte Licht und sah Sofia an. Dann schaute sie zu Maria. Sie versuchte Sofias Hand zu lösen. Aber Sofia ließ Maria nicht los.
Dann tauchte sie wieder in die Dunkelheit. Irgendwo dort war Maria, das wusste sie. Bald war es wieder Morgen. Dann würde alles wie immer sein. Sie würden zum Acker laufen, wo Mama Lydia schon hockte und mit ihrer Hacke den Boden lockerte. Dann würde es Nachmittag und sie würden in die Schule gehen. Wenn nur die Feuer in ihr aufhören wollten zu brennen.
Sie merkte nicht, dass weiß gekleidete Leute in das Zimmer kamen. Sie sah nicht Doktor Raul an Marias Bett stehen und den Kopf schütteln. Sie sah nicht, wie sie Maria auf eine Bahre hoben und hinausrollten. Sie sah nicht, wie Maria mit einem Laken zugedeckt wurde, das sauber und unbenutzt war. Ein Laken, das Doktor Raul von zu Hause mitgebracht hatte. Er wollte nicht, dass Maria mit zerrissenen und schmutzigen Stofffetzen zugedeckt wurde.
Als Sofia das nächste Mal erwachte, war es schon Tag. Die Sonne schien durch das Fenster. Von draußen konnte sie Autos hören. Dann entdeckte sie, dass Maria fort war. Ihr Bett war leer. Sie erinnerte sich schwach daran, was in der Nacht geschehen war. Maria ist nach Hause gegangen, dachte sie. Sie hat mich hier zurückgelassen. Allein. Warum hat sie das getan?
Eine Krankenschwester kam ins Zimmer. »Wo ist Maria?«, fragte Sofia. »Maria ist tot«, sagte die Krankenschwester. Sofia schüttelte den Kopf. »Sie ist nach Hause gegangen«, sagte Sofia. »Sie ist nicht tot.« In dem Augenblick kam Doktor Raul. Sofia kannte seinen Namen nicht. Er sah nett aus. Aber sein Gesicht war gezeichnet von Müdigkeit. »Wo ist Maria?«, fragte Sofia. Doktor Raul kauerte vorsichtig neben ihrem Bett nieder. »Deine Schwester war sehr müde«, sagte er. »Sie war so schwer verletzt, dass sie immer nur schlafen wollte. Das tut sie jetzt. Ihr tut nichts mehr weh. Ich glaube, darüber sollten wir uns freuen. Auch wenn wir traurig sind, dass sie fort ist. Sie hatte so furchtbare Schmerzen, Sofia. Darum ist Maria gestorben.« Sofia sah in seine Augen. Er strich ihr vorsichtig mit einer Hand über die Stirn. »Deine Mama Lydia ist draußen«, sagte er. »Ich werde
sie holen.« Doktor Raul verließ das Zimmer und schloss die Tür. Draußen auf dem Fußboden saß Lydia, zusammengesunken, zerstört. Neben ihr stand José-Maria. Der Doktor hockte sich vor Lydia hin. »Du musst jetzt an Sofia denken«, sagte er. »Geh zu ihr hinein. Aber weine nicht, schrei nicht. Denk daran, dass Sofia sehr krank ist.« Lydia nickte. José-Maria musste sie vom Boden hochziehen. Dann stützte er sie und führte sie in das Zimmer, in dem Sofia lag. Sie sprachen kaum miteinander. José-Maria stand im Hintergrund. Er sah, wie Lydia Sofia streichelte. Und Sofia
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