Das Geheimnis des Feuers
Aber sie hörte Lydia gern zu, die viel und ununterbrochen redete. Sie erzählte von Alfrede und vom Mais, der jetzt geerntet werden musste. Aber sie sprach nicht über Maria. Am Ende, als sie keine Worte mehr hatte, wurde es still im Zimmer. Eine einsame Fliege surrte oberhalb von Sofias Gesicht. Lydia, die auf dem Fußboden neben dem Bett gesessen hatte, erhob sich und streichelte Sofia linkisch über die Wange. »Ich komme bald wieder«, sagte sie. Sofia nickte. Als sie den Kopf bewegte, kehrten die Schmerzen zurück. Sie musste sich dagegenstemmen um nicht zu wimmern. Sie wollte nicht, dass Lydia es hörte.
Am selben Abend, als Sofia allein im Zimmer lag und auf der unterirdischen Dünung schaukelte, als Lydia, Alfredo an sich gedrückt, auf dem Hüttenboden schlief, saß José-Maria auf dem Bett in seinem Zimmer mit einem kleinen Kruzifix in der Hand. Eine einsame Lampe brannte im Zimmer. José-Maria war Pfarrer. Er glaubte an Gott. Vor langer Zeit war er in Brasilien aufgewachsen. Damals hatte er sich entschieden Pfarrer zu werden. Viele Jahre später war er als Missionar ins ferne Afrika geschickt worden, in das Land, in dem Bürgerkrieg herrschte und viele Menschen großem Leid ausgesetzt waren. Seitdem waren Jahre vergangen. José-Maria dachte manchmal, dass er mit seinem Gott Probleme hatte. Ihm fiel es schwer, alles zu begreifen, was den Menschen widerfuhr. Oder war es vielleicht umgekehrt? Hatte Gott Probleme mit José-Maria? Manchmal saß er abends mit dem Kruzifix in der Hand da und versuchte mit Gott zu sprechen. An diesem Abend sprach er über Sofia. Er versuchte zu verstehen, warum ein kleines Mädchen wie sie so leiden musste. Warum hatte ihre Schwester sterben müssen? Er meinte eine müde Stimme in seinem Innern zu hören. Es war, als ob er selbst spräche, aber als ein sehr alter Mann. Die Stimme war alt und brüchig, die Worte undeutlich wie entferntes Flüstern. Gott ist ein Rätsel, dachte er. Das Schweigen, dem ich begegne, ist Gottes eigene Verzweiflung. José-Maria saß bis tief in die Nacht hinein mit dem Kruzifix in der Hand da. Dann machte er das Licht aus.
Einige Wochen vergingen. Immer seltener schaukelte Sofia auf der unterirdischen Dünung. Die Schmerzen wurden schwächer. Jetzt hatte sie manchmal Hunger und konnte schon im Bett sitzen, wenn sie aß. Eines Tages, als sie allein im Zimmer war, zog sie das Laken beiseite und sah mit eigenen Augen, dass ihre Beine nicht mehr da waren. Die Knie waren mit dicken Verbänden umwickelt. Es war etwas Merkwürdiges mit den Beinen, die nicht mehr da waren. Es war, als ob sie trotzdem Gefühl darin hätte, bis hinunter zu den Füßen. Sie rufen nach mir, dachte sie. Sie sind genauso allein wie ich.
Am selben Tag fragte sie Doktor Raul, was mit ihren Beinen passiert sei. Ihre Frage überraschte ihn. Er hatte aber gelernt, dass es das Beste war, Sofia die Wahrheit zu sagen. »Deine Beine sind tot«, sagte er. »Sie waren tot, aber du lebst. Wir haben sie verbrannt. Dann haben wir sie in der Erde begraben.« Sofia dachte lange über das nach, was er gesagt hatte. »Hoffentlich habt ihr sie neben Maria begraben«, sagte sie. Doktor Raul nickte langsam. »Ja«, sagte er. »Wir haben sie neben Maria begraben.«
Am nächsten Tag durfte Sofia zum ersten Mal auf sein. Wie lange sie im Bett gelegen hatte, wusste sie nicht. Sie hoffte, dass viel Zeit vergangen war. Sie dachte, es sei leichter an Maria zu denken, wenn sich die Zeit weit von ihr entfernt hatte. Eine der Krankenschwestern hob sie in einen verrosteten Rollstuhl mit verbogenen Rädern. Dann schob sie Sofia zur Tür hinaus. Der Flur war voller kranker Menschen. Es roch dumpf nach Schweiß und Wunden. »Du brauchst frische Luft«, sagte die Krankenschwester. Sie hieß Mariza.
Sie kamen hinaus auf das Trottoir vorm Krankenhaus. Verwundert betrachtete Sofia all die Autos, die auf der Straße vorbeifuhren, und die hohen Häuser, all die Menschen, die in verschiedene Richtungen liefen. Mariza stellte den Rollstuhl an einer Hauswand ab. »Hier kannst du ein bisschen gucken«, sagte sie und lächelte. »Ich hole dich später wieder ab.« Sie wickelte eine schmutzige Decke um Sofias Beine. Jetzt kann niemand sehen, dass ich keine Beine habe, dachte Sofia. Dann war sie allein. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wie sie in die Stadt gekommen war. Das Letzte, woran sie sich erinnerte, war, wie Maria und sie auf dem Pfad zu den Äckern gelaufen waren. Plötzlich erkannte sie, dass sie überhaupt
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