Das Geheimnis des Feuers
verfolgte Lydias Gesicht mit den Augen. Dann ging Lydia. Draußen im Korridor wurde sie ohnmächtig.
Zwei Tage später operierten die Ärzte Sofia erneut. Sie nahmen ihr rechtes Bein kurz oberhalb des Knies ab. Es war nicht zu retten gewesen. Immer noch glaubten sie, dass Sofia ihr anderes Bein behalten könnte, obwohl es auch schwer verletzt war. Vier Tage später musste Doktor Raul einsehen, dass auch das andere Bein nicht zu retten war. Am nächsten Tag amputierten sie es kurz unterhalb des Knies. Sofia wusste immer noch nicht, dass sie keine Beine mehr hatte.
In der Nacht nach der zweiten Operation schaukelte sie auf dem unterirdischen Meer. Die Feuer brannten weiter in ihr. Zwei Krankenschwestern kamen in ihr Zimmer. Sie hörte die Schritte, spürte, wie sie das Laken anhoben und ihren Körper berührten. Dann hörte sie sie miteinander sprechen. »Es wäre wohl das Beste gewesen, wenn sie auch hätte sterben dürfen wie ihre Schwester«, sagte die eine Stimme. »Was hat sie für ein Leben zu erwarten?«, antwortete die andere Stimme. Dann wurde es still im Zimmer. Die Schritte entfernten sich, die Tür schlug zu. Sofia öffnete die Augen. Hatten sie von ihr gesprochen? Warum wäre es das Beste gewesen, wenn sie auch gestorben wäre? Warum reichte es nicht, dass Maria gestorben war? Sie merkte, dass etwas mit ihrem Körper war. Das waren nicht nur die Feuer, die brannten. Vorsichtig strich sie mit der einen Hand über die Brust und den Bauch, über all die Verbände und weiter über das eine Bein. Am Knie war es zu Ende. Ihr Bein war weg.
Sie haben es weggenommen, dachte sie entsetzt. Sie haben mir mein Bein weggenommen.
6.
Noch einmal saß Sofia da und sah ins Feuer. Sie tat es im Traum. Aber alles war so wirklich, dass sie meinte, sogar den Duft von schwarz verbranntem Holz, von Gras und Erde zu riechen. Dieses Mal suchte sie nicht nach dem Geheimnis des Feuers. Jetzt suchte sie nach Muazenas Gesicht in den Flammen. Sie wollte nach dem Bein fragen, das verschwunden war, dem Bein, das ihr jemand weggenommen hatte. Aber Muazenas Gesicht war nicht da. Sofia schaute ins Feuer, bis nur noch Glut übrig war. Und dann Dunkelheit.
Als sie wach wurde, war es ein neuer Tag. Die Schmerzen kamen und gingen in Wellen. Wieder tastete sie mit der Hand unter dem Laken. Das Bein war weg. Beim Knie war nur noch ein Stumpf übrig, eingewickelt in Verbänden. Sie war sehr müde. Die Schmerzen pochten und hämmerten. Sie war zu müde um darüber nachzudenken, was eigentlich mit ihrem Bein passiert war. Es war, als ob sie sehr weit gelaufen war und erst einmal zu Atem kommen musste. Vielleicht war sie so schnell gelaufen, dass das eine Bein nicht hatte mithalten können? Vielleicht würde es bald wieder an Ort und Stelle sein unterhalb des Knies?
Doktor Raul kam in ihr Zimmer. Sie erkannte ihn jetzt, ohne zu wissen, wer er war. Aber er hockte sich immer neben ihr Bett, sodass sein Gesicht dem ihren nahe kam. Er lächelte. Sofia fand, er sah müde aus. Gab es kein Bett, in dem er sich ausstrecken und ausruhen konnte? »Wie geht es dir, Sofia?«, fragte er. »Jemand hat mein Bein weggenommen«, antwortete sie. Sie sprach so leise, dass er kaum verstand, was sie sagte. Er beugte sich weiter zu ihr vor und bat sie es zu wiederholen. »Mein eines Bein ist weg«, sagte Sofia. Er sah in ihre müden Augen. Er sah in ihr Gesicht, das voller Wunden war. Wieder spürte er den Zorn in seinem Herzen. Ein Kind, das seiner Fähigkeit zu laufen beraubt wurde, dachte er. Ein afrikanisches Mädchen, das niemals wird tanzen können.
Er verstand, dass sie glaubte, nur ihr eines Bein sei verschwunden. Sie hatte immer noch nicht gemerkt, dass auch das andere fehlte. Er sah sie an und dachte, er müsste es ihr sagen. Das war besser, als wenn sie es allein entdeckte. Wie gern hätte er es ihr erspart! Er wünschte, dass er eines Tages nie mehr ein Mädchen wie Sofia in einem Krankenbett sehen müsste, zerrissen von einer Mine. Dennoch hatte er jetzt begonnen zu hoffen, dass dieses Mädchen überleben würde. Noch bestand die Gefahr, dass Infektionen auftreten könnten. Trotzdem glaubte er, sie würde es schaffen. Dieses Mädchen hatte eine erstaunliche Kraft. Er selbst würde wohl nie ganz verstehen, was für Leiden sie zu ertragen hatte. Aber sie war stark. Er dachte, Kraft ist nicht ein Mann, der hundert Kilo heben kann. Kraft ist ein Kind, das überlebt, nachdem es auf eine Mine getreten ist. Von den Krankenschwestern hatte er gehört, dass
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