Das Geheimnis des Feuers
nicht wusste, was passiert war. Warum war Maria tot? Warum hatte sie keine Beine mehr? Warum hatte ihr niemand erzählt, was geschehen war? Waren die Banditen wiedergekommen?
Ihre Gedanken wanderten hin und her, während sie im Rollstuhl vorm Krankenhaus saß. Um sie herum saßen Frauen auf dem Trottoir, ihre verschiedenen Waren um sich ausgebreitet. Einige hatten sich kleine Tische aus Pappkartons gebaut. Sie verkauften Apfelsinen und Äpfel, Zwiebeln und Erbsen, Schokoladenstückchen und Maiskolben. Einige boten auch Bierdosen an. Hin und wieder blieb jemand stehen und kaufte etwas. Die ganze Zeit redeten die Frauen miteinander, stillten ihre Kinder und ordneten ihre Waren. Plötzlich merkte Sofia, dass jemand sie in ihrer eigenen Sprache ansprach. Es war die Frau, die direkt neben ihr saß. Sie reichte Sofia eine halbe Apfelsine. Sofia schüttelte den Kopf, sie hatte kein Geld um zu bezahlen. Dann begriff sie, dass die Frau ihr die halbe Apfelsine schenken wollte. Sie nahm sie entgegen. »Was ist mit dir passiert?«, fragte die Frau. Sie war jung und hatte ein strahlendes Lächeln. »Ich weiß nicht«, antwortete Sofia. »Irgendwas ist mit meinen Beinen passiert und Maria ist gestorben.«
»War das deine Mama?«
»Meine Schwester.«
»Yo Mammanó, inó«, klagte die Frau. »Der Krieg tötet alle. Wie heißt du?«
»Sofia Alface.«
»Ich heiße Miranda«, sagte die Frau. »Ich will deine Freundin sein.« Die Apfelsine schmeckte besser als alles andere, was Sofia jemals gegessen hatte. Sie sah die Frau an und musste plötzlich lachen. Aber das klang fremd. Es war, als ob sie fast vergessen hätte, wie es ist zu lachen.
In der nächsten Woche fuhr Mariza sie jeden Vormittag und Nachmittag hinaus. Jeden Tag war Miranda dort. Einige Male geschah es, dass Doktor Raul hinaus auf die Straße kam und eine Zigarette rauchte. Eines Tages gab er Miranda einige Geldscheine. Da sie Sofia weiterhin Apfelsinen gab, begriff Sofia, dass Doktor Raul sie bezahlte. Bald kannte Sofia alle Frauen, die auf der Straße um sie herum waren. Sie riefen schon, wenn Mariza mit dem Rollstuhl kam, und manchmal setzten sie ihr eins der kleinsten Kinder auf den Schoß, wenn sie etwas erledigen mussten. Sofia saß auch draußen auf der Straße, wenn Mama Lydia und José-Maria sie besuchen kamen.
Eines Tages holte Mariza sie früher ab. »Jetzt darfst du Mestre Emilio kennen lernen«, sagte sie. »Wer ist das?«, fragte Sofia. »Das ist der, der deine neuen Beine macht«, sagte Mariza. Mestre Emilio war in einem Zimmer, das voller Arme, Beine, Füße und Hände war. Zuerst fand Sofia es unheimlich in dem Zimmer. Aber Mestre Emilio war ein Mann, der viel lachte. Er gab ihr die Hand und sagte, dass alles gut werden würde. Er erinnerte sie an Totio. Er würde ihr ein Paar richtig schöne Beine machen, aus Plastik würden sie sein, und sie würde schwarze Schuhe bekommen. Dann nahm er mit Marizas Hilfe vorsichtig die Verbände ab. Zum ersten Mal sah Sofia die Wunden an ihren Knien. Sie waren immer noch nicht verheilt. Ihr wurde schlecht und sie guckte weg. Mestre Emilio hantierte mit einem Maßband und schrieb Zahlen in ein Notizbuch. Dann legten sie die Verbände wieder an. »Bald kannst du anfangen gehen zu üben«, sagte Mestre Emilio. »Es wird schwer und anstrengend. Aber du
wirst es schaffen.« Sofia nickte. »Du willst doch wieder gehen können?«, fragte er. »Ja«, sagte Sofia. Aber im tiefsten Innern wusste sie nicht, was sie wollte. Es gab Tage und Nächte, da dachte sie nur an Maria. Maria, die tot war, die es nie mehr geben würde. Selbst wenn sie ein Paar künstlicher Beine bekommen würde, sie würde nie wieder rennen, niemals tanzen können. Sie würde Krücken benutzen müssen. Vielleicht war es besser, wenn sie auch starb? Ihre Beine warteten schon auf sie in der Erde. Sie sprach mit niemandem über ihre Gedanken. Nicht mit Mama Lydia, nicht mit José-Maria, nicht mit Doktor Raul.
Eines Tages kam Doktor Raul früh am Morgen in ihr Zimmer. »Heute wirst du umziehen«, sagte er. »Wir brauchen das Zimmer für andere Menschen, die kränker sind als du.« Wie gewöhnlich hatte er sich neben ihr Bett gehockt. »Du wirst gut zurechtkommen«, sagte er. »Niemand macht so schöne Beine wie Mestre Emilio. Jetzt kannst du üben wieder gehen zu lernen.«
»Fahre ich nach Hause?«, fragte Sofia. Doktor Raul schüttelte den Kopf. »Das ist zu weit weg«, antwortete er. »Du musst noch eine Weile in der Stadt bleiben, bis deine Beine
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