Das Geheimnis des Himmels
davon. Da ich erst heute Abend meinen Geschäften nachgehen muss, hätte ich etwas Zeit, Euch die Stadt zu zeigen. Aber nur, wenn es Euch gelegen kommt. Ich will Euch nicht aufhalten.“
„Nein, keineswegs. Ich schließe mich Euch gern ein wenig an.“
Mit diesen Worten beendeten sie ihr Morgenmahl und begannen ihren Rundgang durch die Stadt.
11
Im Hause der Bernhardis war es ruhig geworden. Elisabeth, in tiefem Schock, war so verzweifelt wie noch nie in ihrem Leben. Sie, die ihrem Mann und den Kindern immer eine feste Stütze gewesen war, geriet nun selbst ins Wanken. Ihre Tränen flossen erst, nachdem sie ihre verzweifelten Kinder so weit beruhigt hatte, dass sie wimmernd ihre Stube aufsuchen konnten – aber sie waren nicht imstande, ihre Wut über die Ungerechtigkeit des Lebens zu dämpfen.
Es war ihr durchaus klar, dass sie selbst bisher eine ungewöhnlich glückliche Zeit mit ihren Kindern gehabt hatte. Bis auf Lenchens Geburt waren alle Schwangerschaften und Geburten unkompliziert verlaufen. Sie hatte noch keines ihrer Kinder verloren, wie es bei den anderen Frauen schon zur Normalität gehörte. Keiner ihrer verheirateten Bekannten war das Schicksal einer Totgeburt oder eines frühen Kindstodes erspart geblieben. Aber jetzt, da sie selbst betroffen war, wollte sie selbst nicht getröstet werden. Die Tatsache, dass Annas Leiche noch nicht gefunden war, machte es ihr keineswegs leichter. Schwere Vorwürfe sich selbst und dem Allmächtigen gegenüber wechselten sich mit Zeiten tiefster Depression ab. Dabei musste sie ihren Töchtern gegenüber noch die Rolle der Trösterin übernehmen – eine unmenschliche Aufgabe!
Als sei es damit noch nicht genug, erschwerte die Abwesenheit Leonhards ihre Lage zusätzlich. Auch auf ihn richtete sich ihre wütende Trauer. Warum hatte er nur wegen dieser Papierfetzen, die vielleicht nichts anderes als Schreibübungen eines murrenden Schülers gewesen waren, die Stadt verlassen? So nötig wie jetzt hatte sie ihn noch nie gebraucht. Sie fühlte sich schuldig und gleichzeitig bestraft, weil sie ihn ja selbst zu dieser Reise ermuntert hatte.
Sie wollte, dass es Lenchen besser ging. Um ihr zu helfen, hatte sie die Kinder ausgeschickt. Und nun war aus dieser Segenstat ein Fluch geworden. Aber mit keinem Wort maßregelte sie Barbara und Sophia, dass sie Anna nicht zurückgehalten hatten. Elisabeth wusste, dass sie ihren Töchtern niemals diese Hypothek ins Leben mitgeben durfte. Nein, sie hatte die Alleinschuld zu tragen, wie sie glaubte.
Zwei Tage nach dem Unglück klopfte es nachmittags an der Pforte. Draußen stand der Schultheiß und drehte verlegen seinen Hut in der Hand.
„Frau Magister empfängt heute nicht!“, ergriff Johannes das Wort.
„Wenn die gnädige Herrin zu Haus weilt, dann ist es von äußerster Dringlichkeit, dass ich sie sprechen kann. Ich handle im Auftrag der Obrigkeit.“
Das wirkte. „Ja, wenn es so ist, einen Moment bitte. Ich werde versuchen, Frau Magister zu holen.“
Einige Minuten vergingen und Elisabeth erschien an der Tür.
„Es tut mir leid, Euch in Eurer Trauer zu stören. Aber ich muss Euch bitten, mich zum Leichenhaus zu begleiten. Etliche Meilen nördlich von hier wurde ein Mensch aus der Elbe gezogen, und ich kann es Euch nicht ersparen, Euch zu fragen, ob es sich dabei um Eure Tochter Anna Bernhardi handelt.“
Elisabeth nickte stumm und begleitete den Schultheiß bis zu dem kleinen Schuppen, in dem die Leichen des Ortes vor ihrer Beisetzung aufgebahrt wurden. Sie wusste später selbst nicht mehr, wie sie die Kraft gefunden hatte, diese Schritte zu gehen. Ihr war, als würde sie ihre innere Leere körperlich spüren. Es dämmerte bereits, als sie das Gebäude erreichten.
Ein älterer Knecht trat hinzu, öffnete das verschlossene Tor und entzündete eine Laterne. In der Mitte des Raumes befand sich ein hoher Tisch und darauf, unter Tüchern verborgen, eine menschliche Gestalt. Als der Schultheiß die Decke etwas anhob, fiel Elisabeths Blick auf das rote Kleid, das sie so gut kannte. Noch konnte sie sich beherrschen, aber als das Gesicht der Toten aufgedeckt wurde und sie trotz des schrecklichen Zustandes Anna erkannte, schwankte sie und fiel in Ohnmacht. Im letzten Moment konnte der Knecht sie auffangen und auf Heu betten.
Ihre Schwäche war nur von kurzer Dauer. Mit einem Ruck setzte Elisabeth sich wieder auf und erklärte mit versteinerter Miene: „Ja, das ist Anna.“ Mehr konnte sie nicht sagen.
„Sollen wir Euch nach
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