Das Geheimnis des Millionaers
Augen füllten sich mit Tränen, aber kein Ton kam über ihre Lippen.
„Du bist sehr tapfer.“ Seine Miene wurde weicher. „Aber du solltest trotzdem zurückgehen. Die Wunde muss desinfiziert werden. Vielleicht brauchst du sogar eine Tetanusspritze.“ Chay band ein sauberes Taschentuch um ihr Knie. „Deine Mutter soll sich das ansehen.“
Enttäuscht ließ sie die Schultern sacken, und er richtete sich auf. „Sieh mich nicht an, als würde ich dich bestrafen. Das Baumhaus steht auch morgen noch. Genau wie ich.“ Und damit strich er ihr sanft über die Wange …
Adrienne schoss kerzengerade im Sessel auf. Grundgütiger, sie musste geträumt haben! Warum tauchten diese Bilder ausgerechnet jetzt aus den Tiefen ihrer Erinnerung auf?
Benommen schüttelte sie den Kopf und zog den Saum ihres Rocks ein Stückchen hoch. Die kleine silberne Narbe an ihrem Knie gehörte so sehr zu ihr, dass sie sie gar nicht mehr bewusst wahrnahm.
Ich weiß auch, warum ich bis jetzt nie wieder daran gedacht habe, wie ich sie mir zugezogen habe, dachte sie. Weil Piers bei ihrem nächsten Besuch auf The Grange da war. Und das änderte alles. Das Baumhaus bot keine geheime Zuflucht mehr, sondern wurde zum Albtraum und Chay, ihr einstiger Held und Freund, zum Widersacher.
Adrienne stand auf und blieb stehen, als sie wankte. Ihr war schwindlig. Während sie gedöst hatte, war die Dunkelheit hereingebrochen, und mit ihr kam die Kälte.
Mit unsicheren Schritten schaltete sie das Licht an und zog die Vorhänge vor die Fenster. Als es an der Haustür klingelte, zuckte sie erschreckt zusammen und erstarrte. Ihr Puls raste, und ihr Kopf fühlte sich an, als wäre er in Watte gepackt. Außerdem schwankte sie leicht auf der Stelle.
Hätte sie das Licht nicht eingeschaltet, könnte sie sich jetzt tot stellen. So aber sah man sie deutlich am Fenster – wie einen Goldfisch im Glas.
Zögernd ging Adrienne in die Diele und schnappte nach Luft, als ein kalter Luftzug sie erfasste, kaum dass sie die Tür aufzog.
„Guten Abend.“ Chay stand auf der Schwelle. „Man hat mir deine Nachricht übermittelt. Darf ich hereinkommen?“
„Was willst du?“ Abwehrend schlang sie die Arme um sich.
„Sollte nicht ich diese Frage stellen? Schließlich hast du mich angerufen.“
„Richtig.“ Sie lehnte sich gegen den Türrahmen. „Zeit verschwendest du nicht, was?“
Chay musterte sie forschend. „Nicht gerade ein herzliches Willkommen. Hast du deine Meinung doch wieder geändert?“
Obwohl sie sich so elend fühlte, bedachte sie ihn mit einem herausfordernden Blick. „Nein. Ich habe angerufen, um dir zu sagen, dass ich dein Angebot annehme.“
„Das dachte ich mir“, murmelte er.
Feindselig funkelte sie ihn an. „Und der Schieger ist hier, um seinen Triumph auschukoschten.“
Er lächelte ironisch. „Ich dachte immer, es heißt ‚Sieger‘ und ‚auskosten‘. Und um von einem Sieg auf ganzer Linie zu sprechen, ist es wohl noch zu früh. Sag, werden wir dieses Gespräch hier an der Tür führen?“
„Hier entlang.“ Sie steuerte auf den Salon zu, hielt sich dabei aber an der Wand fest.
„Soll ich helfen?“
„Lasch mich blosch in Ruhe. In meinem eigenen Hausch kann ich allein laufen.“ Sie runzelte die Stirn, konzentrierte sich und wiederholte überdeutlich: „In meinem eigenen Haus.“ Sie deutete auf die Weinflasche. „Möchtest du vielleicht ein Glas Wein?“ Sehr zufrieden mit sich, hob sie die Flasche. „Hoppla, die ist leer.“
„Das dachte ich mir auch.“ Mit fragendem Blick sah er sie an. „Wann hast du zuletzt gegessen?“
Nachdenklich runzelte sie die Stirn. „Weisch ich nicht mehr. Und überhaupt, wasch geht dich dasch an?“
„Ich mache mir Gedanken um dein Wohlergehen.“
„Seit wann?“, fragte sie abfällig.
Er lachte. „Aus reinem Eigennutz. Du sollst doch nicht an Unterernährung eingehen, bevor unsere Abmachung vollzogen wird.“ Er hielt inne. „Sag mal, hast du in diesem Zustand im Hotel angerufen?“
„Von welchem Schuschtand redest du überhaupt?“, fragte sie indigniert.
„Ich würde sagen, du hast deine Sorgen mit Alkohol betäubt.“
„Na, feiern tu ich beschtimmt nicht!“ Sie runzelte die Stirn. „Ich meine …“
„Schon in Ordnung, ich weiß, was du meinst. Aber jetzt werden wir diese Trauerzeremonie mit schwarzem Kaffee weiterführen. Zur Küche geht’s da entlang?“
Adrienne tappte hinter ihm her. Mit gebührender Empörung verfolgte sie, wie er den Wasserkocher aufsetzte
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