Das Geheimnis unserer Herzen: Roman (German Edition)
hintergangen und so gedemütigt zu fühlen, dass ihr übel werden und sie kein Wort hervorbringen würde. Sie war überzeugt gewesen, dass sie nur noch aus dem Zimmer stürzen könnte, aber nicht ein einziges Mal hatte sie sich vorgestellt, dass sie diesen Moment erleben würde, ohne auch nur irgendetwas zu empfinden. Keinen Zorn, keinen Schmerz, kein Gefühl des Verratenwordenseins. Vanessa ließ ihre Mutter los und wandte sich zu ihrer Schwester um.
»Bist du für immer nach Hause gekommen?«, fragte Violet.
»Ich bin hier nicht mehr zu Hause«, antwortete Vanessa.
»Aber nein, natürlich nicht«, sagte Violet lächelnd. »Ich meinte, nach London.«
»Mein Mann hat hier viele Verpflichtungen, daher nehme ich an, dass wir die meiste Zeit in seiner Stadtwohnung verbringen werden«, sagte Vanessa. Mein Mann . Die Worte waren ihr so leicht über die Lippen gekommen, als wäre Graeme schon immer ein Teil ihres Lebens gewesen.
»Hallo, Vanessa«, sagte Jeremy, der neben Violet stand und noch fast genauso aussah wie damals, als Vanessa ihm zum ersten Mal begegnet war. Sein lockiges, hellblondes Haar war leicht zerzaust und gab ihm mehr den Anschein eines Poeten als den eines Wissenschaftlers, und seine braunen Augen waren fest und ruhig, als sie Vanessas Blick begegneten. Er schluckte nur einmal hart und nickte ihr dann höflich zu.
Trotzdem erkannte Vanessa, dass er nervös war und sich anscheinend fragte, ob sie einen Aufstand machen würde oder nicht. Aber als sie ihm jetzt gegenüberstand, empfand sie nicht die kleinste Eifersucht auf ihre Schwester. Jeremy war ein feiner Mann, aber er verblasste im Vergleich zu Graeme.
»Ich glaube, du hast mir etwas zu sagen«, wandte Vanessa sich an ihn.
Er wurde blass und stammelte etwas Unverständliches.
»Zu dem Buch meines Vaters und dem Brief, den ich geschickt habe«, stellte Vanessa klar. Obwohl es durchaus amüsant war, ihn so herumdrucksen und nach einer Erklärung für seine Indiskretion suchen zu sehen, hatte sie keine Zeit, es zu genießen. »Ich bin in Eile.«
»Ja, ja, natürlich«, sagte er erleichtert und kam zu ihr hinüber.
»Vanessa, du und dein Gatte müsst unbedingt einmal zum Dinner kommen. Ich würde zu gern den Mann kennenlernen, der dir dein Herz gestohlen hat.«
Vanessa nickte darauf nur lächelnd, weil sie keine Worte fand. Ihr Herz gestohlen? Der Gedanke war gar nicht so abwegig, wie sie einmal gedacht hatte. Ihre Mutter drückte ihr noch einmal die Hand, bevor sie aus dem Zimmer ging.
»Die Zeichnungen in deinem Brief kamen mir so bekannt vor, dass ich wusste, ich hatte sie schon einmal irgendwo gesehen«, sagte Violet. »Deshalb zeigte ich sie Jeremy, und zusammen begannen wir Vaters Bücher durchzusehen.«
»Der Code ist geradezu brillant«, bemerkte Jeremy. Dabei blickte er mit einem breiten Grinsen auf, und Vanessa dachte, dass sie ihn noch nie so unbefangen hatte lächeln sehen. Früher waren es immer nur erzwungene, schmallippige Lächeln gewesen, die er aufgesetzt hatte, um nicht unhöflich zu wirken. »Ich nehme an, du hast die Überreste davon mitgebracht?«
»Wir konnten es kaum erwarten, das Geheimnis zu enträtseln«, sagte Violet.
Sie waren ein eher unwahrscheinliches Paar, ihre temperamentvolle Schwester und der zugeknöpfte Amerikaner, aber zusammen waren sie beide anders. Nichts erinnerte mehr an die nach Aufmerksamkeit gierende Violet, deren Benehmen schon an ungehörig grenzte, und an ihrer Stelle sah Vanessa jetzt eine hübsche Frau, deren Augen vor Neugierde und Intelligenz sprühten. Selbst Jeremy wirkte sehr viel freundlicher und längst nicht mehr so distanziert.
»Ich habe die gesamte Inschrift mitgebracht«, sagte Vanessa, während sie das Buch an der entsprechende Stelle öffnete und den Code enthüllte. Hier im Arbeitszimmer ihres Vaters erschienen ihr die handgezeichneten Symbole mehr als nur vertraut. Jetzt wusste sie, warum sie dieses Gefühl gehabt hatte, als sie den Dechiffrierer das erste Mal gesehen hatte.
Violet sah Jeremy an. »Ist das Buch noch im Salon?«, fragte sie.
»Ja, das ist es. Ich hole es sofort.« Und damit eilte Jeremy auch schon hinaus und ließ die beiden Schwestern allein.
Ein verlegenes Schweigen entstand für einen Moment, bevor Violet auf ihre Schwester zuging. »Es tut mir leid, was ich getan habe, Vanessa«, sagte sie.
»Das sollte es auch«, erwiderte Vanessa und hielt dann inne. »Aber es fällt mir schwer, dir böse zu sein, denn hättest du mich nicht so hintergangen,
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