Das Geheimnis von Digmore Park
Louise konnte es nicht glauben: Mamas Leiden verfolgten sie bis hierher. Warum konnte sie diese Dinge nicht für sich behalten? Was ging sie noch Mamas Rücken an? „Vor einigen Tagen kam der Brief hier an, den ich dir hiermit nach langer und reiflicher Überlegung beilege. Er ist an dich adressiert. Natürlich habe ich ihn gelesen, meine Tochter, und ich muss sagen, dass ich weit davon entfernt bin, den Inhalt zu verstehen … Melde dich doch wieder einmal bei deiner armen Mama. Wer weiß, wie lange mir noch bleibt auf Erden …“
Lady Bakerfield schnaufte unwillig und hielt sich nicht länger mit dem Schreiben ihrer Mutter auf. Es würde ihr ohnehin nur Vorwürfe eintragen. Wie sehr sie es hasste, dass ihre Mutter immer wieder versuchte, ihr ein schlechtes Gewissen zu machen! Aber das würde ihr nicht mehr gelingen. Sie hatte nicht ohne Grund Hals über Kopf geheiratet, um endlich dem Krankenzimmer zu entfliehen! Sie vergewisserte sich, dass ihr Gemahl in die Lektüre seiner Zeitung vertieft war und faltete den anderen Brief auseinander. Noch bevor sie zu lesen begann, fielen ihr die Initialen F.M.D. auf. Ihre Augen verengten sich, sie kniff ihre Lippen zu einem blassen Strich zusammen. Sieh an, sieh an, das war ja höchst bemerkenswert! Mylady ließ das Blatt sinken und zog nachdenklich die Stirn kraus. Dann trat ein triumphierendes Lächeln auf ihre hübschen Gesichtszüge. Was für eine überraschende, höchst willkommene Möglichkeit, die Heimkehr des verlorenen Sohnes zu beschleunigen!
„Nun“, seine Lordschaft blickte von der Zeitung auf, „wer hat nun das Schreiben mit der unbekannten Handschrift verfasst?“
Seine Gattin nickte eifrig. „Meine liebe Tante Betty, sie lässt dich ganz herzlich grüßen, unbekannterweise!“
Mylord dankte, und sein Blick senkte sich wieder auf das Blatt in seinen Händen. Er hatte noch nie etwas von einer Tante Betty gehört, aber das war kein Wunder. Ihre Trauung hatte wenige Tage vor der Hochzeit seiner Cousine Irene im engsten Kreis der Familie stattgefunden. Außer Louises Eltern und ihren Geschwistern hatten sie keine anderen Verwandten eingeladen. Das war die Bedingung seines zukünftigen Schwiegervaters gewesen. Lord Bendworth hatte ihm dies mehr als deutlich zu verstehen gegeben: „Ich habe bereits vier Töchter unter die Haube gebracht, Bakerfield. Meine Säckel sind leer. Entweder du heiratest meine Jüngste in aller Stille und ohne mir unnötige Kosten zu verursachen, oder du lässt es bleiben!“
Natürlich hatte er sich gefügt. Für ihn musste man keine große Hochzeit abhalten, ihm war wichtig, dass er die geliebte Braut nach Hause führen konnte. Und auch Louise hatte überraschenderweise nicht versucht, ihren Vater durch Trotz oder Schmeicheleien umzustimmen. Wie gerne hätte er seine neue Frau auf Irenes Hochzeit seiner staunenden Verwandtschaft präsentiert! Doch dann war Lady Bendworth ernstlich erkrankt, und Louise musste an ihrer Seite bleiben.
„Weißt du was, mein Lieber“, hatte sie ihm bei seiner Abreise ins Ohr geflüstert, „ich wünsche mir, dass du noch niemandem von uns erzählst. Ich komme nach Digmore Park, sobald es Mamas Gesundheit erlaubt. Ich möchte unbedingt dabei sein, wenn du unser großes Geheimnis enthüllst. Versprich mir, es für dich zu behalten, bis ich an deiner Seite bin!“
Natürlich hatte er es ihr versprochen. Auch wenn es ihm schwergefallen war und er auf Irenes Feier mehrere Male fast damit herausgeplatzt wäre. Als er die freudige Nachricht schließlich verkünden konnte, war nur mehr sein Onkel zugegen. Irene und Dewary waren bereits abgereist und Mama …
„Ich hoffe, du bist nicht böse, wenn ich dich allein lasse. Ich möchte meiner Mutter und Tante Betty umgehend für ihre lieben Worte danken. Wir sehen uns dann zum Dinner.“
Sie winkte ihrem Mann lächelnd zu und begab sich schnurstracks in die Küche, wo am Treppenabgang zum Keller ein Schlüsselkästchen hing.
28. Kapitel
Zwei Stunden später saß Elizabeth wie auf Nadeln. Wie lange dauerte denn dieses Schachspiel? Was besprach Mama wohl mit seiner Lordschaft? So schwach und krank, wie er war – war er überhaupt in der Lage, sich so lange zu unterhalten? Und wenn ja, was dachte er über seinen Sohn? Hielt er ihn für den Mörder seiner Schwester? Und wenn dem so war, freute es ihn dann überhaupt, dass Dewary vorerst in Sicherheit war? Der einsame Reiter am Waldrand fiel ihr ein. Was hatte dieser Mann gesehen? Hatte er Dewary gar erkannt?
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