Das Geheimnis von Digmore Park
wies ihm den Weg nach oben. Ob der strenge Sittenkodex bei derart ungewöhnlichen Umständen eine Ausnahme vorsah? Durfte eine unverheiratete junge Dame, wenn sie sich in Gefangenschaft befand, das Zimmer eines Mannes in derselben Lage betreten, ohne dass ihr Ruf ein für alle Mal beschädigt wäre? Er würde die Entscheidung Elizabeth überlassen. Wenn sie sich weigerte, ihm Gesellschaft zu leisten, dann würde er eben die silbernen Platten die Treppe hinauf ins Turmzimmer tragen.
Doch Elizabeth war viel zu überrascht und glücklich, ihn wiederzusehen, als dass sie sich durch Skrupel von einem gemeinsamen Abendessen mit dem Mann ihres Herzens abhalten lassen wollte. Wenn ihr heute Nachmittag jemand prophezeit hätte, dass der Augenblick kommen würde, in dem sie Lady Bakerfield zu Dank verpflichtet war, sie hätte ihn für verrückt erklärt. Und dennoch war es die Wahrheit. Hätte Mylady sie nicht ins Turmzimmer gesperrt, dann hätte Dewary sie wohl nie geküsst. Er hätte aus Pflichtgefühl seine Verlobte geheiratet, und sie hätte ihm ihr ganzes Leben nachgeweint.
Doch nun saß sie da in Dewarys Zimmer an einem liebevoll gedeckten Tisch. Das Licht des Mondes schien auf sein Gesicht, und sie lächelte ihm zu, ein Lächeln, das sofort erwidert wurde. Natürlich, noch stand nicht fest, dass der Major seine Verlobte nicht zum Traualtar führen würde, trotz allem, was zwischen ihnen geschehen war. Doch daran wollte Elizabeth nicht denken. Dewary schenkte Rotwein ein und reichte ihr das Glas. Das Kerzenlicht brach sich tausendfach im geschliffenen Kristall. Und dann sagte er die Worte, die ihn selbst überraschten und die er doch aus ganzem Herzen so meinte.
„Auf unsere Liebe, Elizabeth. Und darauf, dass unsere Gefangenschaft ein gutes Ende nimmt!“
32. Kapitel
Das Schachbrett stand unberührt auf dem Tisch, wie bereits an den Nachmittagen zuvor. Lord Digmore war ans Fenster getreten und schob mit dem Zeigefinger den Vorhang ein Stück zur Seite. Der Vorplatz lag ruhig und friedlich in der abendlichen Sonne.
„Wenn Sie wüssten, wie befreiend es für mich ist, dass die Wachen abgezogen sind.“ Kurz pressten sich seine Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. „Freund und Feind waren kaum zu unterscheiden.“
Lady Portland blickte ratlos zu ihm hinüber. „Wie soll ich das verstehen, Mylord?“
„Haben Sie sich nie gefragt, warum es so viele Burschen waren, die Digmore Park bewachten, Mylady?“
Lady Portland wäre nie auf die Idee gekommen, sich eine solche Frage zu stellen, doch sie war viel zu klug, das zuzugeben.
„Irgendjemand hat das böse Gerücht in Umlauf gesetzt, dass auf Dewary ein Kopfgeld ausgesetzt wurde“, setzte Lord Digmore fort, „stellen Sie sich das vor! Man solle ihn fangen, tot oder lebendig! Zuerst waren nur zwei Männer des Friedensrichters als Wachen abgestellt, doch mit der Zeit trieb sich hier eine Vielzahl anderer Burschen herum, die sich alle das Schandgeld sichern wollten. Also wurde wiederum die Zahl der Bewaffneten verstärkt, um Frederick zu schützen.“
„Warum haben Sie die Leute nicht weggeschickt? Es ist doch Ihr Grund und Boden!“
Mylord kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf. „Das hätte ich gern getan, glauben Sie mir. Doch wie hätte das ausgesehen? Hätten böse Zungen nicht behauptet, ich wollte meinen Sohn hier im Haus seiner Väter verstecken, damit er der gerechten Strafe entgeht?“
Mylady schenkte ihm ein warmes Lächeln. „Wie klug Sie sind! Wenn Sie wüssten, wie sehr ich Sie für Ihren Weitblick bewundere!“
Ihre Worte vertrieben die grauen Schatten aus seinem Gesicht. Mit ein paar Schritten war er an ihrer Seite, setzte sich neben sie aufs Sofa und ergriff ihre Hand – eine Geste der Vertrautheit, die ihnen in den letzten beiden Tagen bereits zur lieben Gewohnheit geworden war.
„Würdest du mir die Freude machen, mich John zu nennen? Da du meine verstorbene Frau so gut gekannt hast, wird niemand daran Anstoß nehmen, denke ich.“
„Das mache ich liebend gern … John! Wenn du mich dafür Margret nennst.“ Mylady errötete wie ein Schulmädchen, und es war lange her, dass sich seine Lordschaft so jung gefühlt hatte wie in diesem Augenblick. Ob er es wagen sollte, sie in den Arm zu nehmen? Nein, das wäre wohl etwas aufdringlich.
„Wo du soeben von Weitsicht und Klugheit sprachst, meine Liebe, so kann ich diese beiden Eigenschaften auch an dir nicht genug bewundern. Hättest du dich nicht damit einverstanden erklärt, dass
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