Das Geheimnis von Digmore Park
Haus.
Nach dem Mittagessen kehrte Dewary nur widerwillig in den Stall zurück. Er hatte den Geruch von Pferden und Heu gründlich satt. Wie sehnte er sich danach, ein Pferd zu satteln und unbeschwert in den sonnigen Junitag hinauszureiten. Ein flotter Galopp würde ihn rasch auf andere Gedanken bringen. Doch es half nichts: Die Gefahr war einfach zu groß. Er hätte sich dafür ohrfeigen können, dass er es so eilig damit gehabt hatte, seinen Vollbart abzurasieren. Linworth, der eingebildete Schnösel, hätte ihn nie und nimmer als Major Dewary entlarvt, wenn sein oberflächlicher Blick einen bärtigen Stallmeister gestreift hätte. Schließlich war es nicht die Art der Londoner Adeligen, einem Diener einen zweiten Blick zu gönnen.
Zumindest dem Stall hatte sein unfreiwilliger Aufenthalt gutgetan. Alle Zaumzeuge waren blank poliert, die Geräte standen in Reih und Glied oder hingen ordentlich an den dafür angebrachten Nägeln. Gegen drei am Nachmittag kam Molly, Miss Porters Kammerzofe, vorbei, um ihm einen Befehl ihrer Herrin auszurichten.
„Können Sie den Phaeton anspannen, Mr. Michaels? Miss Elizabeth möchte in einer halben Stunde ausfahren.“
Sie schenkte ihm ein schüchternes Lächeln unter gesenkten Lidern. Er war ein gutaussehender Mann, der neue Stallmeister. Stets freundlich und höflich, nicht so mürrisch wie der alte Mr. Simmons. Aber ein wenig Angst hatte sie doch vor ihm. Er wirkte so gebieterisch, fast ein wenig einschüchternd.
„Du kannst deiner Herrin bestellen, dass das Fahrzeug wunschgemäß bereitstehen wird, Molly. Ich kann sie jedoch nicht begleiten, ich muss … ich habe … zu viel zu tun. Wer kutschiert Miss Porter für gewöhnlich? John?“
Molly ließ ein glockenhelles Lachen hören. „Als ob Miss Elizabeth einen Kutscher brauchen würde! Man merkt, dass Sie noch nicht lange bei uns sind, Mr. Michaels! Miss Elizabeth ist selbst eine schneidige Fahrerin!“
Dewary nickte. Das konnte er sich gut vorstellen. „Gut, dann werde ich ihr einen Burschen zur Begleitung mitschicken!“
Doch auch dagegen verwahrte sich Molly entrüstet. „Das ist nicht nötig, Mr. Michaels. Miss Elizabeth will doch nur Lady Clara besuchen, ihre beste Freundin. Die wohnt kaum eine Viertelstunde von hier entfernt.“
Er konnte es nicht fassen. „Ja, aber …“
„Miss Elizabeth fährt immer allein zu Lady Clara hinüber, Mr. Michaels. Schon seit Jahren. Und Mylady hat nichts dagegen einzuwenden“, setzte sie hinzu, als sie merkte, dass er immer noch nicht überzeugt war.
Dewary schüttelte den Kopf. Das waren schon seltsame Sitten, die hier auf Portland Manor herrschten! Doch gut, es lag nicht an ihm, sie zu ändern. Außerdem hatte er wahrlich andere Sorgen.
Pünktlich zur vereinbarten Zeit erschien Elizabeth bei den Stallungen. Dewary hatte die Pferde bereits angespannt und sich dann wieder hinter die schützende Stalltüre zurückgezogen. Die beiden Rappen scharrten ungeduldig mit den Hufen. Er konnte nur hoffen, dass sie rasch aufstieg und losfuhr. Genau genommen war es seine Pflicht, ihr auf den Kutschbock hinaufzuhelfen. Allerdings: Das würde sie wohl allein können, selbstständig, wie sie war. Oder ließ ihr verletztes Bein dies noch nicht zu?
„Mr. Michaels!“ Miss Porters Stimme hallte laut und vernehmlich über den Vorhof. „Mr. Michaels! Ich bin bereit zur Ausfahrt! Hören Sie mich?!“
Unwillig schüttelte er den Kopf. Natürlich hörte er sie. Sie hatte so laut gerufen, dass sie sicher noch im Umkreis von einer halben Meile zu hören war. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als seine Deckung aufzugeben.
„Ah, Miss Porter, einen wunderschönen guten Tag! Ich war so beschäftigt, ich habe Sie gar nicht kommen hören!“
Er bemühte sich um ein kleines Lächeln, als er durch das Stalltor ins Freie trat. Eigentlich hatte er vorgehabt, noch ein paar belanglose Worte anzufügen. Doch der Anblick, der sich ihm bot, ließ ihn innehalten. Elizabeth war weiß wie Kalk. Nicht einmal damals, als sie vor seinen Augen im Rosengarten gestürzt war, war sie so blass gewesen. Und was trug sie für ein seltsames Kleid? Ein schwarzes Ungetüm, das sich mit unmodischen weiten Röcken um ihre schlanke Gestalt bauschte. Es war ein warmer, ja fast schon heißer Junitag. Warum hatte sie dann eine schwarze Stola um die Schultern gelegt? Und was hing da für ein dünner Stoff aus ihrem Reithut heraus und bedeckte ihren halben Rücken? Was sollte das sein? Ein Schleier vielleicht? Plötzlich
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