Das Geheimnis von Orcas Island
sich um ihre Augen. Nach einem Moment nickte sie nur. »Also gut. Aber dann machen Sie sich auch nützlich. Holen Sie mir die Schere aus dem Schreibtisch. Ich will die Bluse aufschneiden.«
So stehen die Dinge also, überlegte Mae, während sie Charitys Schuhe aufband. Sie erkannte, wenn ein Mann zu Tode erschrocken war. Nun, sie musste ihr Mädchen eben wieder auf die Beine bringen. »Sie können bleiben«, sagte sie zu Ronald, als er ihr die Schere reichte. »Aber was auch immer zwischen Ihnen beiden vorgeht, Sie werden sich umdrehen, bis ich sie akzeptabel gemacht habe.«
Er ballte die Hände zu Fäusten und schob sie in die Taschen, während er herumwirbelte. »Ich will wissen, wo sie verletzt ist.«
»Immer mit der Ruhe.« Mae schob die Bluse beiseite und beherrschte ihre Gefühle, während sie die Kratzer und Prellungen untersuchte. »Öffnen Sie die oberste rechte Schublade und geben Sie mir ein Nachthemd. Eins mit Knöpfen. Und gucken Sie nicht her«, fügte sie hinzu. »Sonst schicke ich Sie hinaus.«
Als Antwort warf er ein weißes Nachthemd auf das Bett. »Mir ist es egal, was sie anhat. Ich will wissen, wie schwer sie verletzt ist.«
»Ich weiß, Junge.« Maes Stimme wurde sanft, während sie Charitys schlaffen Arm in einen Ärmel steckte. »Sie hat ein paar Kratzer und Prellungen, das ist alles. Nichts gebrochen. Die Schnittwunde an ihrer Stirn muss behandelt werden, aber Schnitte heilen. Sie hat sich schlimmer verletzt, als sie vor einiger Zeit von einem Baum fiel. Sie kommt zu sich.«
Nun drehte er sich zu ihr um, Nachthemd oder nicht. Aber Mae hatte es bereits zugeknöpft. Er unterdrückte – knapp – den Drang, zu Charity zu eilen, behielt die Entfernung bei und beobachtete, wie ihre Augenlider flatterten. Das flaue Gefühl in seinem Magen war Erleichterung. Als sie stöhnte, wischte er sich die feuchten Handflächen an den Hosenbeinen ab.
»Mae?« Während Charity versuchte, klar zu sehen, streckte sie eine Hand aus. Sie erkannte die massige Gestalt ihrer Köchin, aber wenig sonst. »Was … Oh, mein Kopf.«
»Tut ziemlich weh, nicht wahr?« Maes Stimme klang forsch, aber sie nahm Charitys Hand in ihre. »Der Doktor wird das wieder in Ordnung bringen.«
»Doktor?« Verdutzt versuchte Charity sich aufzusetzen, aber vor Schmerz sank sie sofort zurück in die Kissen. »Ich will keinen Doktor.«
»Das wolltest du nie, aber er kommt trotzdem.«
»Ich werde nicht …« Widerspruch kostete zu viel Mühe. Stattdessen schloss sie die Augen und konzentrierte sich darauf, ihre Gedanken zu klären. Es war ziemlich offensichtlich, dass sie im Bett lag, aber wie, zum Teufel, war sie dorthin gekommen?
Sie erinnerte sich, dass sie mit Ludwig gelaufen war, und dass er einen Baum neben der Straße unwiderstehlich gefunden hatte. Und dann … »Da war ein Auto«, sagte sie und öffnete wieder die Augen. »Der Fahrer muss betrunken oder verrückt gewesen sein. Er schien direkt auf mich zuzukommen. Wenn Ludwig mich nicht schon von der Straße gezogen hätte … Ich glaube, ich bin gestolpert. Ich weiß es nicht.«
»Das ist jetzt nicht wichtig«, versicherte Mae ihr. »Wir werden es später herausfinden.«
Nach energischem Klopfen öffnete Mae die Außentür. Ein kleiner rüstiger Mann mit weißem Haar kam hereingeeilt. Er trug eine schwarze Tasche, einen schmuddeligen Overall und schlammige Stiefel.
Nach einem Blick auf ihn schloss Charity die Lider. »Gehen Sie weg, Dr. Mertens. Ich fühle mich nicht wohl.«
»Sie wird sich nie ändern.« Dr. Mertens nickte Ronald zu, trat dann an das Bett, um seine Patientin zu untersuchen.
Leise zog Ronald sich in das Wohnzimmer zurück. Er brauchte einen Moment, um sich zusammenzureißen, um den Zorn zu bekämpfen, der in ihm aufstieg, nun da er wusste, dass Charity wieder in Ordnung kommen würde. Er hatte seine Eltern verloren, er hatte seinen besten Freund begraben, aber er hatte nie diese Panik verspürt wie in dem Moment, als er Charity blutend und bewusstlos neben der Straße gefunden hatte.
Er nahm eine Zigarette heraus und trat an das offene Fenster. Er dachte an den Fahrer des alten verrosteten Chevy, der sie angefahren hatte. Obwohl sich Ronalds Zorn abkühlte, wusste er eines ganz genau. Es hätte ihm große Freude bereitet, denjenigen umzubringen, der sie verletzt hatte.
»Entschuldigung.« Lori stand händeringend in der Tür zum Flur. »Der Sheriff ist hier. Er will Sie sprechen, also habe ich ihn heraufgebracht.« Sie zupfte an ihrer Schürze und
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