Das Geheimnis von Orcas Island
zu drohen, und ging fort.«
»Wohin seid ihr gegangen?«
»Ich sagte, sie ging fort.«
»Aber … hat sie dich denn nicht mitgenommen?«
»Ich nehme an, sie rechnete sich aus, dass es schwer genug für sie sein würde, ohne sich mit einem Zehnjährigen abzugeben.«
Charity schüttelte den Kopf und kämpfte mit einem tiefen, brennenden Zorn. Sie hatte Mühe zu verstehen, wie eine Mutter ihr Kind verlassen konnte. »Sie muss sehr verwirrt und verängstigt gewesen sein. Nachdem sie …«
»Ich habe sie nie wieder gesehen«, sagte Ronald. »Du musst begreifen, dass nicht jeder bedingungslos liebt. Nicht jeder liebt überhaupt.«
»Oh, Ronald.« Sie wollte ihn an sich ziehen, doch er hielt sie von sich ab.
»Ich blieb weitere drei Jahre bei meinem Vater. Eines Abends betrank er sich, bevor er ins Taxi stieg. Er tötete sich selbst und einen Fahrgast.«
»Oh, Himmel.« Charity streckte eine Hand nach ihm aus, doch er schüttelte den Kopf.
»Damit wurde ich Mündel unter Amtsvormundschaft, was mir nicht besonders lag. Also machte ich mich davon, trieb mich auf der Straße herum.«
»Mit dreizehn?« warf Charity entsetzt ein.
»Dort hatte ich ohnehin die meiste Zeit gelebt.«
»Aber wovon?«
Ronald schüttelte eine Zigarette aus seiner Schachtel, entzündete sie und nahm einen tiefen Zug, bevor er wieder sprach. »Ich nahm Gelegenheitsarbeiten an, wenn ich welche fand. Wenn nicht, dann stahl ich. Nach ein paar Jahren war ich so gut im Stehlen, dass ich mich nicht mehr besonders um anständige Jobs kümmerte. Ich brach in Häuser ein, schloss Wagen kurz, klaute Handtaschen. Verstehst du, was ich dir sage?«
»Ja. Dass du allein und verzweifelt warst.«
»Ich war ein Dieb. Verdammt, Charity, ich war kein armes, irregeleitetes Kind. Ich hörte auf, ein Kind zu sein, als ich nach Hause kam und feststellte, dass mein Vater sinnlos betrunken und meine Mutter fort war. Ich wusste, was ich tat. Ich suchte es mir aus.«
Sie hielt seinem Blick offen stand, bekämpfte den Drang, ihn in die Arme zu schließen. »Wenn du erwartest, dass ich ein Kind verdamme, weil es einen Weg zum Überleben gesucht hat, dann muss ich dich enttäuschen.«
Sie sieht es zu romantisch, dachte Ronald und schnippte die Zigarettenkippe ins Wasser.
»Stiehlst du immer noch?«
»Was ist, wenn ich Ja sage?«
»Dann müsste ich dir sagen, dass du dumm bist. Du wirkst auf mich nicht dumm, Ronald.«
Ronald zögerte einen Moment, bevor er sich entschloss, Charity den Rest zu erzählen. »Ich war in Chicago. Ich war gerade sechzehn geworden. Es war Januar und so kalt, dass die Augen nicht tränen konnten. Ich beschloss, genügend zusammenzubringen, um einen Bus nach Süden nehmen zu können. Ich nahm mir vor, in Florida zu überwintern und die reichen Touristen zu schröpfen. Damals lernte ich John Brody kennen. Ich brach in seine Wohnung ein und fand mich plötzlicher einer 45er gegenüber. Er war ein Cop.«
Die Erinnerung an jenen Moment brachte ihn noch immer zum Lachen. »Ich weiß nicht, wer überraschter war. Er gab mir drei Möglichkeiten zur Auswahl. Die erste, mich dem Jugendgericht zu übergeben. Die zweite, mich gehörig zu verprügeln. Die dritte, mir etwas zu essen zu geben.«
»Für was hast du dich entschieden?«
»Es ist schwer, den harten Burschen zu markieren, wenn ein Hundert-Kilo-Mann eine 45er auf einen richtet. Ich aß eine Dose Suppe. Er ließ mich auf der Couch schlafen.« In der Erinnerung sah er sich selbst, dünn und voller Bitterkeit, schlaflos auf dem durchgesessenen Sofa liegen. »Ich sagte mir immer wieder, dass er ein sentimentaler Dummkopf sei und ich ihn so ausnehmen wollte, wie ich nur konnte, und dann abhauen würde. Aber ich habe es nie getan. Und als Nächstes schickte er mich zur Schule.« Ronald hielt einen Moment inne und blickte zum Himmel hinauf. »Er baute immer Sachen unten im Keller des Gebäudes. Er brachte mir bei, mit einem Hammer umzugehen.«
»Er muss ein außergewöhnlicher Mensch gewesen sein.«
»Er war erst fünfundzwanzig, als ich ihn kennen lernte. Er war auf der verkehrten Straßenseite aufgewachsen, hatte sich an Jugendbanden beteiligt. Irgendwann ist er dann umgekehrt. So beschloss er, auch mich zu bekehren. In gewisser Weise gelang es ihm. Als er ein paar Jahre später heiratete, kaufte er ein heruntergekommenes Haus am Stadtrand. Wir richteten es Zimmer für Zimmer her. Er sagte immer, dass ihm nichts besser gefiel, als auf einer Baustelle zu leben. Wir waren gerade dabei, seine
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