Das Geheimnis von Winterset
leer, und die Zügel hingen schlaff herab. Nur wenige Schritte entfernt lag eine dunkle Gestalt am Boden. Eine zweite, in einen weiten Umhang gehüllte Person beugte sich über sie.
„Kit!", schrie Anna laut und trieb ihr Pferd an.
Die Gestalt in dem dunklen Umhang sah sich kurz um, und Anna erblickte etwas Helles und zugleich Dunkles, nicht wirklich ein Gesicht... in der nächsten Sekunde huschte dieses unheimliche Wesen davon und war in der Finsternis verschwunden.
Anna preschte voran. Sie fürchtete weder um sich noch um ihre Stute, sondern wollte nur so schnell wie möglich bei ihrem Bruder sein. Der Stallmeister folgte ihr, und sobald sie die Stelle erreicht hatten, wo die Gestalt am Boden lag, sprangen sie beide aus dem Sattel.
„Kit!" Sie ließ sich neben ihm auf die Knie fallen.
Es war tatsächlich ihr Bruder. Unter dem mächtigen Blätterdach der alten Bäume war es so dunkel, dass Anna ihre flache Hand auf seinen Rücken legen musste, um festzustellen, ob er noch atmete. Erleichtert seufzte sie, als sie spürte, wie sein Rücken sich gleichmäßig hob und senkte.
„Er lebt!"
Cooper beugte sich über Kit. „Ist er verletzt? Was ist geschehen, Miss?"
„Ich weiß es nicht." Sie blickte ihren Stallmeister fragend an. „Haben Sie auch ... "
Er nickte zustimmend. „Ich habe auch etwas gesehen. Was war das?"
„Ich ... ich denke, dass es eine Person mit einem Umhang war."
„Soll ich ihn verfolgen, Miss?"
Anna musterte kurz die Bäume und Büsche, die sich zu beiden Seiten des Weges in der Finsternis verloren. „Nein", erwiderte sie. „Es ist zu dunkel."
Sie hätte daran denken sollen, eine Laterne mitzunehmen, schoss es ihr durch den Kopf. Auch eine Pistole hätte nützlich sein können ... Anna erschauderte, als sie an die unheimliche Gestalt dachte, die sich über Kit gebeugt hatte.
Sie betrachtete ihren Bruder aufmerksam. „Kit?"
Als er leise stöhnte, fühlte sie sich schon ein bisschen beruhigter - bis sie feststellte, dass es nicht Schmutz war, der sein Haar verfärbte, sondern Blut.
Schnell griff sie unter den Saum ihres Kleides und raffte ihren Unterrock zusammen. „Haben Sie ein Messer?"
„Ein Messer? Oh ja, natürlich, Miss." Cooper holte aus seiner Jacke ein Taschenmesser hervor.
Anna schnitt in den Rüschenbesatz ihres baumwollenen Unterrocks und riss ein langes Stück heraus, das sie dann zusammenfaltete und so vorsichtig wie möglich gegen Kits Kopfwunde drückte.
Er stöhnte erneut und bewegte sich ein wenig.
Jetzt konnten sie schon das Geklapper von Pferdehufen hören, und als sie aufblickten, sahen sie den Kutscher, der ganz nachlässig gekleidet in Hemdsärmeln und Hosenträgern auf sie zusteuerte. Neben ihm auf dem Kutschbock saß der Hausdiener, mit dem Anna vorhin gesprochen hatte, und hielt sich krampfhaft an seinem Sitz fest, während der Wagen mit hoher Geschwindigkeit den Weg entlangrumpelte.
Sobald die Kutsche anhielt, sprang vom hinteren Teil des Wagens der Stallknecht ab, der ihnen die Pferde bereitgemacht hatte.
„Wie gut, dass Sie eine Laterne mitgebracht haben", bemerkte Anna. „Bringen Sie sie hier herüber, Gorman. Kit ist verletzt."
Der Kutscher kam näher, und in dem hellen Lichtschein konnte Anna erkennen, dass Kit nur am Kopf verletzt zu sein schien. Sie nahm den gefalteten Stoffstreifen ab und stellte erleichtert fest, dass die Wunde aufgehört hatte zu bluten.
Rasch tasteten Anna und der Stallknecht Kits Arme und Beine ab, aber zum Glück war nichts gebrochen.
Vorsichtig drehten sie ihn nun auf den Rücken, und Anna atmete auf, als auch seine Brust keine Anzeichen einer Verletzung zeigte.
„Gott sei Dank! Lassen Sie ihn uns in den Wagen tragen und so schnell wie möglich nach Hause fahren. Cooper, Sie reiten bitte ins Dorf hinunter und holen Dr. Felton."
„Jawohl, Miss."
Cooper schwang sich in den Sattel und ritt geschwind davon, während die anderen Kit zur Kutsche brachten. Es war nicht leicht, ihn ins Innere des Wagens zu bekommen. Kit stöhnte, erwachte kurz aus seiner Bewusstlosigkeit und sah die drei Männer einen Moment verständnislos an, bevor die Augen ihm sofort wieder zufielen. Anna überließ ihr Pferd dem Stallknecht, damit er nach Holcomb Manor zurückreiten konnte, während sie selbst zu ihrem Bruder in die Kutsche stieg.
Liebevoll griff sie nach der Hand ihres Bruders, die sich schlaff und leblos anfühlte. Sie konnte nur hoffen, dass er bald das Bewusstsein wiedererlangen würde. Es sollte Kopfverletzungen
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