Das Geheimnis von Winterset
zu sagen, aber dieses dumme Mädchen kann doch nur kichern ... "
Anna lachte. „Ich habe mir schon gedacht, dass die beiden dich schon reichlich strapaziert hatten. Deshalb habe ich auch nicht nach dir rufen lassen, um dich von ihnen zu verabschieden - obwohl Mrs. Bennett es sicher gerne gesehen hätte und dies auch immer wieder zum Ausdruck brachte."
„Danke. Du bist ein Schatz."
Anna blieb noch kurz, und sie erzählten sich, was sie den Tag über beide gemacht hatten. Dann ging sie nach oben, um sich zum Abendessen umzukleiden. Während des Essens plauderte sie zwischen den einzelnen Gängen unbeschwert mit ihrem Bruder über dieses und jenes, und auf einmal wurde ihr bewusst, dass dies für den Rest ihres Lebens so weitergehen würde - nachbarschaftliche Besuche, Mahlzeiten mit ihrem Bruder und beschauliche Abende vor dem Kaminfeuer mit einem Buch.
Anna blickte zu Kit hinüber. Vor drei Jahren waren sie übereingekommen, dass sie beide niemals heiraten würden, denn sie fanden es unverantwortlich, den Wahnsinn ihrer Familie weiterzutragen. Sie wollten keine Kinder haben, die eines Tages selbst der Geisteskrankheit verfallen würden. Es war ein ruhiges, beschauliches und an sich auch kein schlechtes Leben - Anna kannte Frauen, die viel größere Opfer gebracht hatten als sie selbst. Doch an manchen Tagen, so wie jetzt, fühlte sie sich den Tränen nahe.
Nach dem Essen ritt Kit ins Dorf, da heute das allwöchentliche Kartenspiel bei Dr. Felton stattfand. Anna verbrachte den Abend damit, endlich ihre gesamte Korrespondenz zu erledigen, die sich im Laufe der letzten Tage angesammelt hatte. Immer wieder schweiften ihre Gedanken jedoch ab und begannen, um Reed zu kreisen. Sie fragte sich, was er wohl gerade tun mochte und ob es ihm auch so schwerfiel, sich auf irgendetwas zu konzentrieren, weil er immerzu an sie denken musste ...
Ganz offensichtlich war er bestürzt und fassungslos gewesen, als sie ihn in das dunkle Geheimnis ihrer Familie eingeweiht hatte - und verärgert, weil sie ihm nicht davon erzählt hatte, nachdem er seinen Antrag gemacht hatte.
Mittlerweile fand sie, dass er zu Recht wütend auf sie war, denn ihre Ablehnung wäre zweifellos einfacher für ihn zu ertragen gewesen, wenn er den wahren Grund dafür gewusst hätte. Auch dann wäre die Trennung vielleicht schmerzlich für ihn gewesen, aber er hätte doch verstehen müssen, dass sie niemals heiraten konnten. Schließlich gab Anna es auf, legte seufzend Schreibfeder und Briefpapier beiseite und ging nach oben in ihr Schlafzimmer.
Sie fühlte sich einsam und gelangweilt und war dennoch zu unruhig, um schlafen zu können. Deshalb griff sie zu dem Buch, das sie vor kurzem zu lesen begonnen hatte. Bereits nach ein paar Minuten wurde ihr indes bewusst, dass sie noch immer auf dieselbe Seite starrte, und klappte es wieder zu. Stattdessen ging sie zu ihrem Sekretär hinüber, setzte sich und fing an zu schreiben.
Auf der linken Seite des Blattes notierte sie alles, was sie über die Morde wusste, die sich vor fünfzig Jahren ereignet hatten. Rechts daneben schrieb sie, was bislang über die aktuellen Fälle bekannt war. Sie musste feststellen, dass die Liste wenig beeindruckend war. Nun zog sie Verbindungslinien zwischen den Merkmalen beider Verbrechen, die miteinander übereinstimmten, und betrachtete ihre Aufzeichnungen eine Weile. Aber noch immer wollte ihr keine zündende Idee kommen.
Schließlich stand sie auf, ging zum Fenster hinüber und sah hinaus. Der Mond war heute Nacht nur eine schmale Sichel, und tiefe Dunkelheit hatte sich über die Landschaft gesenkt. Anna sah zu dem von Sternen funkelnden Himmel auf und hing erneut ihren Gedanken nach.
Plötzlich kam eine Angst über sie, die sie wie ein scharfes Messer durchfuhr. Anna keuchte und drehte sich hastig um, in der unbestimmten Überzeugung, hinter sich etwas Grauenvolles zu erblicken. Sie war allein im Zimmer, doch ihre Angst wollte nicht nachlassen, ihr war so elend zumute, als hätten sich stählerne Fesseln um ihre Brust geschnürt. Das Blut rauschte ihr in den Ohren, und sie rang mühsam nach Atem.
Auf einmal verschwamm alles vor ihren Augen, ihre Knie gaben unter ihr nach, und Anna ließ sich in einen Sessel sinken. Sie konnte die frische Nachtluft auf ihren Wangen spüren, empfand ein friedfertiges Wohlwollen und einen leicht schwindeligen Rausch. Vor ihrem inneren Auge nahm sie eine dunkle Straße vor sich wahr, über der sich dichte Baumkronen wölbten, die das Licht des
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