Das Geheimnis
beisammen und beugten sich über Pläne, die auf großen Papierbögen gezeichnet waren. Der würzige Geruch von Sägemehl lag in der Luft. Fürstin Keisho-in stieß vor Staunen einen leisen, freudigen Schrei aus.
»Wundervoll!« Sie stützte sich auf Ryukos Arm, trat von der befestigten Straße herunter und ging mit Tippelschritten zur Baustelle.
Während die Arbeiter niederknieten und sich tief verbeugten, als die Fürstin näher kam, eilten die Baumeister herbei, um der Mutter des Shôguns ihre Achtung zu bezeugen, doch Ryuko bedeutete allen, mit der Arbeit weiterzumachen; er wollte, dass der Lärm auf der Baustelle wieder einsetzte, sodass niemand sein Gespräch mit Keisho-in mithören konnte. Aber zuerst musste Ryuko die Fürstin über den Bauplatz führen – der vorgebliche Zweck dieses Ausflugs.
»Hier wird sich der Haupteingang befinden, mit Hundestatuen zu beiden Seiten des Tores«, erklärte Ryuko und führte Keisho-in zum östlichen Rand der Lichtung; von dort aus schlenderte er mit ihr gemächlich über den Bauplatz. »Und hier werden die Gemä cher für die 20.000 Hunde sein. Die Wände werden mit Landschaften bemalt – Wälder und Felder –, sodass die Tiere den Eindruck haben, im Freien zu sein.«
»Wundervoll!«, rief Fürstin Keisho-in, die staunend die Augen aufgerissen hatten. »Ich kann es jetzt schon vor mir sehen!«
Während sie weitergingen, teilte Ryuko seine Aufmerksamkeit auf – eine Fähigkeit, die er sich im Laufe der Jahre angeeignet hatte. Zum einen schilderte er Keisho-in weitere Einzelheiten der Hundeunterkünfte, schmeichelte ihr hin und wieder und achtete auf Anzeichen, ob ihr kalt war oder ob sie ermüdete. Da Ryukos Schicksal von seinem guten Verhältnis zur Fürstin abhing, durfte er sich keinen Fehltritt leisten. Mit dem anderen Teil seines Verstandes beobachtete er sich selbst, überwachte gleichsam sein Auftreten und Aussehen: Ryuko sah einen schlanken, würdevollen Priester mit schlichten Holzsandalen, der einen gefütterten Umhang aus brauner Seide über seiner safrangelben Priesterrobe trug. Er hatte kluge, ausdrucksvolle Augen und einen durchdringenden Blick, den er so lange vor dem Spiegel geübt hatte, bis er ihm zur Gewohnheit geworden war. Überdies besaß er eine würdevolle Aura sowie eine ruhige, kultivierte Stimme. Nichts erinnerte mehr an seine bescheidene Herkunft.
Ryuko war mit acht Jahren zum Waisen geworden und nach Edo gekommen, um in der großen Stadt sein Glück zu machen. Er fand Zuflucht im Zôjô-Tempel, wo die Priester ihm Nahrung, Unterkunft und Kleidung gaben und ihm Unterricht erteilten. Mit 15 Jahren hatte Ryuko sein Gelübde abgelegt. Doch tragische Erlebnisse in seiner Kinderzeit hatten bewirkt, dass sich zwei widersprüchliche Wesenszüge in seinem Inneren stritten, sodass es ihm unmöglich war, seine priesterlichen Gelübde einzuhalten.
Ryuko hasste die Armut aus tiefster Seele. Nie würde er die Entbehrungen des bäuerlichen Lebens vergessen, die Schufterei auf den Feldern, den ständigen Mangel an Nahrung und die Hoffnungslosigkeit, jemals ein besseres Leben zu führen. Als junger Priester hatte Ryuko sich unermüdlich dafür eingesetzt, den Armen in Edo das beschwerliche Dasein zu erleichtern. Er hatte Spenden gesammelt und sie unter den bedürftigen Bürgern verteilt; ein anderer Teil des Geldes war den Waisenkindern im Zôjô-Tempel zugute gekommen. Bald hatte sich Ryuko den Ruf eines selbstlosen und mildtätigen Mannes erworben. Die Armen beteten ihn an, und seine Oberen lobten ihn dafür, das Ansehen ihrer Sekte zu mehren. Doch nicht allein die Nächstenliebe war Ryukos Antrieb gewesen.
Oft musste er daran denken, wie er sich jedes Mal demütig zu Boden geworfen hatte, wenn der örtliche daimyo vorbeigekommen war. Fürst Kuroda und seine Gefolgsleute ritten auf herrlichen Pferden mit prachtvollen Satteldecken. Die Gesichter dieser edlen Herren waren von reichlicher Nahrung feist und rund, Nahrung, die Ryuko und die anderen Bauern für sie anbauten; jeder, der die geforderte Menge nicht liefern konnte, wurde ausgepeitscht. Wie sehr Ryuko diese Männer gehasst hatte! Zugleich aber hatte er sie um ihre Macht und ihren Reichtum beneidet und genauso sein wollen wie sie.
In den ersten Jahren, die Ryuko als Priester verbracht hatte, war dieser Wunsch immer stärker geworden. Im Zôjô-Tempel – dem Haustempel des Tokugawa-Klans – hatte er oft Gelegenheit gehabt, die Pracht zu bestaunen, die man sich für Geld kaufen konnte. Doch
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