Das geheimnisvolle Tuch
Seherin aufforderte, sie möge in ihre Kugel schauen. Eine fast erblindete Frau sollte in die Kugel sehen!
Sie aber strich mit ihrer knochigen Hand über das Glasding. Die Kugel fing an zu schweben und wurde zu einem grellen Lichtball. Sie mussten die Augen schließen, denn die Ausstrahlung des Glases verursachte stechende Schmerzen.
„Über wessen Schicksal soll ich berichten?“, fragte sie.
„Sage meines voraus“, antwortete Gerason.
„Ich sehe viele Leute geschart um eine Zwergin. Ich sehe dich mit Tränen in den Augen und ich sehe eine Zwergenfrau, wohl die deine, umringt von Gestalten. Sie wollen Böses. Ich sehe einen Galgenbaum und einen Blitz. Es verschwindet. Ich sehe nichts mehr.“
„Du warst schon einmal besser“, meinte der Zwerg enttäuscht.
„Ich brauche das Salz, damit es mir mehr Kraft gibt“, entgegnete sie.
„Können wir bis morgen bei dir bleiben?“, fragte Gerason.
Sie nickte.
„Hast du ein paar Sachen für uns? Wir müssen uns irgendwie verkleiden.“
„Was hast du vor?“, fragte sie voller Sorge.
„Wir müssen in die Stadt.“ Er erzählte ihr von der Gefangenschaft seiner Frau und der geplanten Rettungsaktion, auch davon, dass sie gar nicht mehr im Besitz der Minen waren.
Sie schien trotz ihrer Fähigkeiten dies allerdings noch nicht gewusst zu haben.
„Gut, ich werde die fliegenden Augen heute Nacht in die Festung beordern und auch in die Stadt in das Verlies. Ich muss und will euch helfen. Erstens seid ihr meine Freunde und zum anderen brauche ich unbedingt das Salz, sonst werden meine Kräfte immer schwächer. Diese Nacht werde ich alles noch einmal umsonst machen.“
Sie konzentrierte sich, sah dabei nach oben gen Decke. Die gelben Augen verließen die Höhle und die Alte entspannte sich wieder.
„Ich werde euch berichten, was ich sehe. So hört: Wir sind an der Festung.“ Vinc, der dicht neben Gerason saß, flüsterte: „Mit 'wir', meint sie doch bestimmt die Augen und sich? Und so schnell sind sie irgendwo?“
„Ja. Sie sieht mit den fliegenden Augen. Das ist ihr Ersatz. Sie sind sofort an jedem Ort, den sie nennt. Aber nun schweig.“
Der Junge wusste jetzt, warum die Frau trotz ihrer Blindheit sie so klar und deutlich bei ihrer Ankunft erkannt hatte.
„In der Festung herrscht Trubel. Viele Wachen sind im Hof und mitten drin stehen die Kinder.“
„Die Kinder?“, rief Vinc erschrocken. „Und die Wachtiere? Die greifen sie doch an.“
„Ich sehe keine solchen Tiere“, sagte die Seherin ruhig.
„Oben in der Luft“, erregte Vinc sich weiter.
„Da ist nichts! Nur auf dem Boden! Vor den Kindern steht die Hexe Gistgrim.“
„Also doch eine Hexe. Du kennst sie?“, verwunderte sich der Junge und fügte hinzu: „Ich wusste es doch gleich.“
„Natürlich kenne ich das falsche Weib. Sie ist eine Erzfeindin von mir. Aber das ist eine andere Sache. Die Hexe tobt.“
„Was sagt sie“, unterbrach Vinc sie wieder.
Die Seherin schien durch die vielen Unterbrechungen etwas ungehalten und meinte barsch: „Das sind fliegende Augen und keine Ohren. Ich sehe einmal, was in den Baracken los ist. Ich kann die Augen durch die Fenster fliegen lassen. Die Lager sind alle leer, aber das ist ja nicht verwunderlich, da die Kinder im Hof stehen. Hier ist nichts zu sehen. Ich kehre in den Hof zurück. Oh, da ist ja auch der Lumpensohn Jimias. Das Früchtchen von Xexarus. Ein Wesen fliegt auf ihn zu. Sie befinden sich abseits hinter einem der Schlafhäuser. Er scheint etwas zu murmeln und aus dem Tier wird eine Person. Sie sieht aus wie die übrigen Wachen.“
Diesmal unterbrach Gerason Schautin: „Er verwandelt die Wachtiere zurück. Das muss er ja. Sonst würden sie die Hexe und die Kinder angreifen.“
Er wollte auch nichts mehr von der Festung wissen, denn er war überzeugt, dass sie die Suche nach den Ausreißern beginnen würden. Er bat vielmehr die Seherin, sie möge die Augen doch einmal in das Städtchen zu seiner geliebten Frau schicken, um zu erkunden, wie es ihr geht und den Ort der Gefangenschaft genauer ansehen.
Die Seherin tat wie ihr geheißen.
„Sie liegt im Hexenturm, der schwer bewacht wird. Er steht auf einem freien Platz. Unzählige Posten gehen auf und ab“, berichtete sie.
„Kannst du nicht in den Turm?“, fragte Gerason ungeduldig.
„Doch, da sind ein paar Scharten. Ich sehe drei Mann im Wachraum. Nun sehe ich das Verlies deiner Frau. Es scheint ihr gut zu gehen. Sie schläft aber nicht. Eine Wache kommt herein. Sie sagt
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