Das geheimnisvolle Tuch
dem Leben innerlich abgeschlossen, wagte er sich an den Speer heran. Er konnte nur hoffen, dass das Eisen fest und stabil war. Ein Fehler im Material und er würde seinem Gewicht nicht standhalten.
Dann noch eine schreckliche Erkenntnis: Wenn er sich zu weit durchbog, bedingt durch die Schwere seines Körpers, etwa in der Mitte, dann würden die wenigen Zentimeter plötzlich an den Rändern fehlen und es ginge hinab. Aber er schob diese Gedanken zur Seite und begab sich in dieses waghalsige Unternehmen.
Er konzentrierte sich auf sein abenteuerliches Vorhaben und auf die Untiefe, die sein dunkles Grab werden könnte.
Nachdenken war wohl fehl am Platz, denn er durfte jetzt weder die Nerven noch seine Muskeln negativ beeinflussen. Beide sollten ein Gespann bilden. Sich vereinen zu einem riesigen Energiepaket, zu einer Union, die um den Erhalt des gesamten Körpers kämpfte.
Er kroch an den Beginn seiner Überquerung und ertastete den Anfang seines Hangelgerätes. Durch Abgreifen des Anfanges des Speers überzeugte er sich noch einmal, ob genug über dem Rand lag. Nun konnte dieses kleine Abenteuer beginnen, nur wusste er jetzt noch nicht, wie groß es sich entpuppen würde.
Der schwierigste Teil mochte der sein, seinen Körper in die richtige Position zu bringen, um in die hängende Lage zu kommen.
Steine bröckelten vom Rand und stürzten in die Tiefe. Ein Echo wiederholte das plumpsende Geräusch, als riefe es nach dem menschlichen Opfer.
Beinahe hätte er den Speer vom Rand weg geschoben, musste ihn wieder ausgleichen. Er merkte, wie sich seine Linke immer mehr von der Kante löste. Er ließ sie los. Sein rechter Arm trug die gesamte Last des Körpers. Er hörte das Knirschen der eisernen Stange, er meinte, sie rutschte mehr zum Abgrund.
Dann, nach etlichen Versuchen, brachte er es tatsächlich fertig, an dem Speer zu baumeln. Angesichts der Schwärze, die unter ihm herrschte, brauchte er keine Höhenangst zu haben. Eigentlich ein Vorteil. Wenn er keinen Grund sah, konnte sein Geist nicht in eine schwindelnde Panik verfallen.
So hangelte er sich Handlänge für Handlänge unter dem Speer entlang..
In der Mitte bog sich der Stab etwas durch. Wie viele Zentimeter mögen am Rand wohl noch sein? Angstschweiß perlte auf seiner Stirn. Die Perlen erreichten seine Augen und brannten in ihnen wie Feuer. Er schloss für kurze Zeit die Lider, aber das Brennen blieb und trübte sein Sehvermögen noch mehr. Er bemerkte, wie er leichtsinnigerweise durch eine Art Reflex die eine Hand benutzen wollte, um seine Augen frei zu wischen. Ein gefährlicher Drang denn angesichts seines geschwächten Körpers würde eine Hand wohl kaum sein Gewicht aushalten.
Er schloss seine Augen fest, um nicht noch mehr von dem Schweiß hineinzubekommen. So wurde aus der Finsternis die total schwarze Nacht. Als Blinder versuchte er nun, das andere Ende zu erreichen, wobei sich die Lanze immer mehr durchbog. Seine Sinne konzentrierten sich auf seine Hände. Dabei bemerkte er, wie sich der Stab festigte und die Elastizität wieder verlor.
Doch Vinc ließ sich nicht beirren. War doch der rettende Rand bald erreicht.
Und dann geschah es.
Durch die ruckartigen Bewegungen des Hangelns, kam das Ende des Speers immer mehr an den Abgrund. Er bemerkte in der Aufregung nicht, dass die Lanze nur noch ganz knapp am Rand lag. Die nächste Bewegung würde unweigerlich der Absturz sein.
Plötzlich geschah es. Der Speer verlor seinen Halt.
Mit einem Aufschrei eines Menschen, der sein Ende kommen sah, stürzte er in die Tiefe.
Es begann der Fall des Todes.
Er merkte noch, wie der Speer ihn in den Rücken traf und etwas seitlich wegschleuderte.
Dann wurde ihm schwarz vor Augen.
Als er wieder erwachte, rieb er seine schmerzenden Glieder, dabei die Gegend ringsum erforschend.
Er lag irgendwo auf hartem Gestein. Zunächst stellte er beruhigt fest, dass seine Körperteile zwar etwas angeschlagen, aber sonst intakt waren.
Er schaute nach oben und sah den Rand des Abgrunds, nur wenige Meter von ihm entfernt, aber zu hoch, um dorthin zu gelangen.
Er erinnerte ihn an das Zeitspiel, an seine Vergiftung und die Suche nach dem rettenden grünen Stein.
Er stand auf und sah sich um.
Er war auf einem kleinen Podest gelandet, das ihm wenig Spielraum ließ, um sich im größeren Umfang zu bewegen, was ihm auch nicht ratsam erschien, denn zu sehr bestand die Gefahr eines Fehltritts. So sah er nur eine kahle, glatte Felswand vor sich ohne jeden Spalt, ohne jede
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