Das geheimnisvolle Tuch
Ebenbild von Vanessa. Daher glaubte er, seine Freundin vorhin in ihr gesehen zu haben.
Ihm wurde plötzlich bewusst, dass er in eine Zeit zurückgeholt worden war, in der Rexina noch lebte. In die Vergangenheit der Fantasiewelt Arganon. Und noch etwas kam ihm in den Sinn: Er war überzeugt davon, dass der Seelenräuber den Auftrag hatte, Vanessa und Drialin bei sich zu behalten, denn sie durfte mit Rexina nicht zusammen kommen. Das hätte die Geschichte nicht zugelassen. Aber die große Frage war, warum erkannte Rexina nicht in ihm den Vincent?
„Warum zaubert dein Vater sich nicht einfach frei?“, wollte Vinc wissen.
„Weil in der gläsernen Stadt kein Zauber wirkt. Dies ist ein Ort der Reinheit. Dort ist alles gleich. Es gibt keine Unterschiede, weder für Magier, Zauberer oder sonstige Wesen. Dort haben weder die Seelenräuber noch die Zeitfresser die Macht, ihr Unwesen zu treiben.“
„Was sind das für Leute oben im Schankraum?“
„Sie spielen dort ein grausames Spiel. Das sind die Seelenräuber. Sie raubten die Seelen, und nahmen die Gestalt der Bestohlenen an.“
„Was bedeuten die Würfel? Die Köpfe mit den Gesichtern?“, wollte Vinc noch wissen.
„Die Gesichter sind von den Leuten, deren Seelen sie rauben wollen. Sie knobeln darum, wer sie haben darf.“
Er erschrak. Sah er doch sich bei einem der Räuber. Er berichtete dem Mädchen von dem Seelenräuber im Totenreich und auch von dessen Auftrag, den Seelensack in der gläsernen Stadt zu finden.
„Dieser Seelenräuber ist keiner. Er ist jemand anderes, er sucht bestimmt nicht den angeblichen Seelensack, den es gar nicht gibt. Geraubte Seelen werden nicht zu irgendjemand gebracht, sondern sie sind Nahrung der Seelenräuber. Diese Seelen, die sie rauben, werden von ihnen vernichtet und sind für immer und ewig verloren, wie ich bereits sagte.“
Nicht gerade ermutigend die Worte von Rexina, warfen sie doch wieder Rätsel auf.
„Wer war dann dieser Seelenfänger, der Vanessa und Drialin gefangen hält?“, murmelte Vinc. Diese Frage hatte er mehr an sich selbst gerichtet, aber Rexina hörte sie dennoch und antwortete: „Da steckt jemand anderes dahinter, was wir wohl erst in der gläsernen Stadt erfahren werden.“
„Wir?“, fragte Vinc.
„Ja. Ich werde euch den Weg dahin weisen. Ich komme mit, um meinen Vater zu befreien. Nur wird der Weg dorthin viele Gefahren bergen.“
Sie waren erfreut, sie als Weggefährtin zu bekommen, zumal sie sich genau auf Arganon auskannte und eine wertvolle Führerin sein würde.
„Wir müssen unbemerkt an den Seelenräubern vorbeikommen. Wir warten am besten, bis sie erneut Seelen geraubt haben und sie verspeisen, dann sind sie träge und faul und niemand interessiert sie mehr“, sagte Rexina.
„Aber ich habe mich auf dem Würfel gesehen“, warf Vinc ein.
„Oh“, sagte sie erschrocken. „Dann bist du in höchster Gefahr. Sie werden dich holen. Kommt! Schnell! Stellt euch zu mir! Ganz dicht!“, befahl sie.
Sie hörten polternd jemand die Treppe herunterkommen.
Sie sagte: „Kreuz des Lebens, Kreuz des Heils, Kreuz der himmlischen Macht, beschütze uns.“
Ein bläulicher Schleier umgab plötzlich die drei. Nicht zu spät, denn just in diesem Augenblick erschienen drei der Männer, die am Tisch um die Seelen gewürfelt hatten. Sie gingen auf die unter dem Schutzmantel Stehenden zu.
Die Seelenfresser streckten ihre Hand aus und wollten sie berühren, um ihnen die Seelen zu entziehen, aber sie prallten an dem blauen Schleier ab.
Nach mehrmaligen vergeblichen Versuchen kehrten sie unverrichteter Dinge wieder um. „Puh! Das war knapp“, sagte Rexina. „Noch ein bisschen länger und sie hätten uns erwischt.“ „Wieso? Du hast uns doch geschützt“, meinte Vinc, noch erregt wegen des ungewöhnlichen Vorfalles.
„Der Zauber geht nur kurze Zeit. Der ist neu, sozusagen als Schutz gegen die Seelenräuber aus der Not geboren. Wir versuchen ihn noch zu verlängern. Bisher ohne Erfolg. Wir müssen uns beeilen. Die kommen vielleicht wieder.“ Sie sprach hastig, erregt, in kurzen Sätzen. Sie wies Vinc und Zubla an, sie mögen ihr folgen..
Vorsichtig schlichen sie die steinigen Stufen nach oben.
An der Türe zum Schankraum verharrten sie kurz und hielten nach den Seelenräubern Ausschau. Es war schwer festzustellen, welche die Räuber waren und welche die Einwohner der Stadt, denn die Seelenräuber nahmen ja, wie bekannt, nachdem sie ihr Werk vollendet hatten, die Gestalt des Beraubten an.
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