Das Geisterhaus
Recht darauf hatte zu wissen, was unter ihrem
Dach vorging. Trotz ihres Sinns fürs Praktische, der über
zwanzig Jahre lang dem Tanz des dreibeinigen Tischs und ihrer
Mutter Vorhersagen des Unvorhersagbaren ungebrochen
widerstanden hatte, zitterte Bianca, als sie die Schwelle des
Labors überschritt.
Sie tastete nach dem Schalter und knipste das Licht an. Sie
stand in einem geräumigen Zimmer mit schwarzgestrichenen
Wänden und dicken, ebenfalls schwarzen Vorhänge n vor den
Fenstern, durch die nicht der geringste Lichtschein hereinfiel.
Der Boden war mit dicken, dunklen Teppichen ausgelegt, und
überall sah sie die Scheinwerfer, Lampen und Fotoapparate, die
sie Jean zum erstenmal bei der Beerdigung Pedro Garcías des
Alten hatte benutzen sehen, als er Lust bekommen hatte, von
den Toten und von den Lebenden so viele Aufnahmen zu
machen, daß jedermann auf glühenden Kohlen saß und die
Bauern zuletzt die Platten auf dem Boden zertrampelten.
Verblüfft sah sie sich um: sie stand in einer phantastischen
Szenerie. Sie ging um offene Truhen herum, in denen
federbesetzte Kleider aller Epochen, Allongeperücken und
ausgefallene Hüte lagen, blieb vor einem an der Decke
befestigten goldenen Trapez stehen, an dem eine Puppe von
menschlichen Ausmaßen mit verrenkten Gliedern hing, in einer
Ecke sah sie ein ausgestopftes Lama, auf den Tischen Flaschen
mit amberf arbenen Likören und auf dem Boden Felle exotischer
Tiere. Was sie jedoch am meisten überraschte, waren die
Fotografien. Starr vor Staunen blieb sie stehen. Die Wände in
Jean de Satignys Studio waren bedeckt mit beklemmenden
erotischen Aufnahmen, an denen die verborgene Natur ihres
Mannes zum Vorschein kam.
Bianca war langsam in ihren Reaktionen. Sie brauchte eine
ganze Weile, bis sie aufgenommen hatte, was sie sah, weil ihr
auf diesem Gebiet jegliche Erfahrung mangelte. Sie kannte die
Lust als ein letztes, köstliches Stadium auf dem langen Weg,
den sie mit Pedro Tercero durchlaufen, den sie ohne Eile, in
heiterer Stimmung, umgeben von Wald oder Kornfeldern oder
in der stillen Landschaft am Fluß unter einem unermeßlichen
Himmel zurückgelegt hatte. Die den frühen Jugendjahren eigene
Unruhe hatte sie nie kennengelernt. Wenn ihre Kameradinnen in
der Schule heimlich verbotene Romane lasen, in denen
imaginäre, leidenschaftliche Galane vorkamen und Jungfrauen,
die nichts sehnlicher wünschten, als ihre Jungfräulichkeit
loszuwerden, setzte sie sich in den Schatten der Kirschbäume im
Patio der Nonnen, schloß die Augen und beschwor in aller
Deutlichkeit die herrliche Leiblichkeit Pedro Terceros herauf,
wenn er sie in den Armen hielt, liebkosend über ihren Körper
strich und in den Tiefen ihrer selbst die gleiche Harmonie
hervorrief, die er auch seiner Gitarre entlocken konnte. Ihre
Triebe waren befriedigt worden, sobald sie erwacht waren, und
nie war ihr in den Sinn gekommen, daß die Leidenschaft auch
andere Formen annehmen konnte. Diese wilden und verquälten
Szenen auf den Fotografien waren eine tausendmal
verwirrendere Wahrheit als die skandalösen Mumien, die
vorzufinden sie erwartet hatte.
Sie erkannte die Gesichter der Bediensteten des Hauses. Der
ganze Hofstaat der Inka war hier versammelt, nackt, wie Gott
ihn in die Welt gesetzt hatte, oder kaum verhüllt in
theatralischem Flitter. Sie sah den unauslotbaren Abgrund
zwischen den Schenkeln der Köchin, das ausgestopfte Lama
rittlings auf dem hinkenden Stubenmädchen und den
unerschütterlichen Indio, der sie bei Tisch bediente, nackt wie
einen Säugling, unbehaart und kurzbeinig, mit seinem steinernen
Gesicht und einem überdimensionalen, erigierten Penis.
Für einen endlosen Augenblick schwankte Bianca in ihrer
eigenen Unsicherheit, bis das Entsetzen überwog. Sie versuchte
scharf zu denken. Sie begriff nun, was Jean de Satigny in der
Hochzeitsnacht gemeint hatte, als er ihr sagte, er fühle sich nicht
zum Eheleben hingezogen. Sie ahnte auch die verhängnisvolle
Macht, die die Indios über ihn ausübten, und das hämische
Gespött der Dienstboten und fühlte sich gefangen im
Vorzimmer der Hölle. In diesem Augenb lick regte sich das
kleine Mädchen in ihrem Innern, und sie erschrak, als hätte eine
Glocke Alarm geläutet.
»Meine Tochter! Ich muß sie hier herausbringen!« rief sie,
ihren Bauch umarmend.
Sie rannte aus dem Labor, lief wie eine Besessene durchs
ganze Haus und auf die Straße, wo die bleierne Sonne und das
erbarmungslose Mittagslicht ihr den
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