Das Geisterhaus
hielt
sie engen Kontakt zu den prosaischen Wahrheiten des Daseins.
Ihr Onkel Jaime zerstörte ihr den Mythos von den kleinen
Kindern, die aus Kohlköpfen kommen oder vom Storch aus
Paris gebracht werden, und ihr Onkel Nicolas den von den
Heiligen Drei Königen, den Feen und den Gespenstern. Alba
hatte Alpträume, in denen sie den Tod ihres Vaters sah. Sie
träumte von einem jungen und schönen, ganz in Weiß
gekleideten Mann in gleichfalls weißen Lackschuhen und
Strohhut, der in der prallen Sonne durch die Wüste wanderte. In
ihrem Traum wurden die Schritte des Wanderers kürzer und
kürzer, er schwankte, kam immer langsamer voran, stolperte und
fiel, stand wieder auf und fiel abermals, verbrannt von Hitze,
Fieber und Durst. Ein Stück weit noch schleppte er sich auf
Knien über den glühendheißen Sand, bis er zuletzt ausgestreckt
in der Unermeßlichkeit der fahlgelben Dünen lag, über sich die
Raubvögel, die über seinem leblosen Körper ihre Kreise zogen.
Sie träumte diesen Traum so oft, daß sie sehr überrascht war, als
sie viele Jahre später in der Halle des städtischen Leichenhauses
die Leiche des Mannes identifizieren mußte, den sie für ihren
Vater hielt. Alba war damals ein tapferes junges Mädchen, kühn
von Temperament und an Schicksalsschläge gewöhnt, so daß sie
allein hinging. Ein Praktikant in weißer Schürze empfing sie, der
sie durch lange Gänge in einen großen, kalten Saal mit
graugestrichenen Wänden führte. Der Mann in der weißen
Schürze öffnete die Tür eines riesigen Eisschranks und zog ein
Tablett heraus, auf dem ein alter, aufgedunsener, blau
angelaufener Körper lag. Alba betrachtete ihn aufmerksam, ohne
irgendeine Ähnlichkeit zwische n ihm und dem so oft im Traum
gesehenen Bild feststellen zu können. Er erschien ihr wie ein
Durchschnittstyp mit dem Aussehen eines Postangestellten. Sie
sah auf seine Hände, und es waren nicht die eines edlen,
vornehmen und klugen Kavaliers, sondern die eines Mannes, der
nichts Interessantes zu erzählen hatte. Aus seinen Papieren ging
jedoch unwiderleglich hervor, daß dieser traurige blaue
Leichnam Jean de Satigny war, der nicht an Fieber in den
goldenen Dünen eines kindlichen Alptraums, sondern als alter
Mann beim Überqueren einer Straße einfach an Herzversagen
gestorben war. Aber das alles war erst viel später. Zu Lebzeiten
Claras war das große Eckhaus noch eine geschlossene Welt, in
der Alba als behütetes und geborgenes Kind aufwuchs,
geschützt selbst noch vor ihren Alpträumen.
Alba hatte noch keine zwei Lebenswochen hinter sich, als
Amanda das große Eckhaus verließ. Sie war wieder zu Kräften
gekommen und hatte keine Mühe, zu erraten, wonach sich Jaime
in seinem Herzen sehnte. Sie nahm ihren kleinen Bruder an der
Hand und ging, wie sie gekommen war, geräuschlos und ohne
Versprechungen. Sie verloren sie aus den Augen, und der
einzige, der sie hätte suchen können, wollte es nicht tun, um
seinen Bruder nicht zu verletzen. Nur durch Zufall sah Jaime sie
viele Jahre später wieder, und da war es für beide zu spät.
Nachdem sie gegangen war, erstickte er seine Verzweiflung in
seinen Studien und seiner Arbeit. Er kehrte zu seinen
Einsiedlergewohnheiten zurück und war so gut wie nie im Haus
zu sehen. Er sprach den Namen Amandas nicht mehr aus und
distanzierte sich für immer von seinem Bruder.
Die Anwesenheit seiner Enkelin im Haus wirkte sich
besänftigend auf Esteban Truchas Charakter aus. Die
Veränderung vollzog sich unmerklich, doch Clara nahm sie
wahr. Kleine Symptome zeigten sie an, der Glanz in seinen
Augen, wenn er das Kind sah, die teuren Geschenke, die er ihr
mitbrachte, seine Besorgnis, wenn er sie weinen hörte. Bianca
kam er dadurch nicht näher. Die Beziehung zu seiner Tochter
war nie gut gewesen und seit ihrer unseligen Ehe so schlecht
geworden, daß nur der von Clara allen auferlegte Zwang zur
Höflichkeit ihnen das Zusammenleben unter ein und demselben
Dach ermöglichte.
Zu dieser Zeit waren fast alle Zimmer des Hauses Trueba
besetzt, und auf dem für die Familie und die geladenen Gäste
gedeckten Tisch lag täglich ein zusätzliches Gedeck, für den
Fall, daß ein unangemeldeter Besucher kam. Die Eingangstür
war durchgehend geöffnet, damit die Familienangehörigen und
die Besucher kommen und gehen konnten, wie es ihnen beliebte.
Während Senator Trueba damit beschäftigt war, die Geschicke
seines Landes zu entwirren, steuerte seine Frau ihr Schiff
geschickt durch die unruhigen
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