Das Geisterhaus
Sinn für die Wirklichkeit
zurückgaben. Sie begriff, daß sie zu Fuß und mit ihrem
Neunmonatsbauch nicht weit kommen würde. Sie ging in ihr
Zimmer zurück, nahm alles Geld, das sie finden konnte, machte
ein Bündel mit einigen Stücken aus der kostbaren
Babyausstattung, die sie vorbereitet hatte, und machte sich auf
den Weg zum Bahnhof.
Auf einer unbequemen Holzbank auf dem Bahnsteig sitzend,
ihr Bündel auf dem Schoß, Grauen in den Augen, wartete sie
Stunde um Stunde auf die Ankunft des Zuges, leise betend, daß
der Graf, wenn er nach Hause kam und die aufgesprengte
Labortür sah, nicht nach ihr suchte, bis er sie gefunden hatte,
und sie zur Rückkehr in das unheilschwangere Reich der Inka
zwang, daß der Zug sich beeilte und wenigstens einmal den
Fahrplan einhielt, daß sie im Haus ihrer Eltern ankam, ehe das
Kind, das auf ihre Eingeweide drückte und gegen ihre Rippen
strampelte, sein Erscheinen auf der Welt ankündigte, daß ihre
Kräfte ausreichten für diese Zweitagereise ohne jede Ruhepause
und daß ihr Wunsch zu leben stärker war als die entsetzliche
Trostlosigkeit, die sie zu lähmen begann. Sie biß die Zähne
zusammen und wartete.
Neuntes Kapitel
Das kleine Mädchen Alba
Alba wurde aufrecht geboren, was ein Glückszeichen ist.
Großmutter Clara untersuchte ihren Rücken und entdeckte einen
sternförmigen Fleck, das Kennzeichen von Menschen, die
befähigt sind, die Glückseligkeit zu erlangen. »Um dieses Kind
braucht man sich keine Sorgen zu machen, es wird Glück haben
und glücklich sein. Außerdem bekommt es eine gute Haut, denn
das ist erblich, und ich habe in meinem Alter noch keine Falten
und nie in meinem Leben einen Pickel gehabt«, erklärte Clara
am zweiten Tag nach der Geburt. Deshalb nahm sich keiner die
Mühe, das kleine Mädchen auf das Leben vorzubereiten, da sich
doch die Gestirne verbunden hatten, um sie mit so vielen guten
Gaben auszustatten. Ihr Sternzeichen war Löwe. Ihre
Großmutter erforschte ihre Konstellation und notierte ihr
Schicksal in blauer Tinte auf die schwarzen Seiten eines
Albums, in das sie auch einige grünschimmernde Kringel ihres
ersten Haars einklebte, die ersten Abschnipsel der Fingernägel,
die sie ihr kurz nach der Geburt beschnitt, und mehrere
Aufnahmen, die sie zeigten, wie sie war: ein außerordentlich
kleines, fast kahlköpfiges, faltiges und blasses Geschöpf ohne
andere Anzeichen menschlicher Intelligenz als die glänzenden,
schon in der Wiege altersweisen Augen. Solche Augen hatte
auch ihr echter Vater. Ihre Mutter wollte sie Clara nennen, aber
ihre Großmutter war dagegen, Vornamen in der Familie zu
wiederholen, weil das in ihren Lebensnotizheften Verwirrung
stifte. Sie suchten Vornamen in einem Synonymenwörterbuch,
und da fanden sie den ihren als letzten in einer ganzen Reihe
von Wörtern, die alle Lichtes bezeichnen. Jahre später quälte der
Gedanke Alba, daß, wenn sie eine Tochter bekam, es kein Wort
mit dieser Bedeutung mehr gab, das sie als Vornamen benutzen
konnte, aber Bianca brachte sie auf die Idee, Fremdsprachen zu
benutzen, was die Auswahl erheblich erweitert.
Alba war drauf und dran gewesen, um drei Uhr nachmittags
mitten in der Wüste in einem Schmalspurzug zur Welt zu
kommen, was für ihre Konstellation verhängnisvoll gewesen
wäre. Glücklicherweise gelang es ihr, sich mehrere Stunden lang
in ihrer Mutter festzuhalten, und so schaffte sie es, im Haus der
Großeltern genau an dem Tag, der Stunde und dem Ort geboren
zu werden, die ihrem Horoskop am besten zustatten kamen. Ihre
Mutter traf unangemeldet im großen Eckhaus ein und krümmte
sich unter den Wehen, mit denen Alba aus ihr herausdrängte.
Verzweifelt klopfte sie an der Tür, und als ihr geöffnet wurde,
rannte sie wie eine Wasserhose ohne anzuhalten bis in das
Nähzimmer, wo Clara gerade liebevoll das letzte Kleidchen für
ihre Enkelin fertig nähte. Hier brach Bianca nach ihrer langen
Reise zusammen, ohne irgend etwas erklären zu können, weil
ihr mit einem tiefen, seufzenden Gurgeln der Bauch sprang und
sie fühlte, wie alles Wasser der Welt mit wütendem Blubbern
zwischen ihren Beinen hervorfloß. Auf Claras Schreien liefen
die Dienstboten zusammen, und auch Jaime kam, der in diesen
Tagen ständig zu Hause war und um Amanda herumstrich. Sie
brachten sie in Claras Schlafzimmer, und während sie sie aufs
Bett legten und ihr die Kleider vom Leib rissen, begann Albas
winzige Menschlichkeit hervorzuspitzen. Ihr Onkel
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