Das Geloebnis
Papiere hat, und doch zieht er eine Rikscha, weil er damit mehr Geld verdient, als wenn er Beamter wäre. Ja, in solchen Zeiten ist ein Paar gute Beine mehr wert als eine Handvoll Gehirn und ein Bauch voll Gelehrsamkeit.«
Er fuhr fort zu reden und erzählte ihr, daß seine Familie zwei Sommer mit Luftangriffen ohne Todesfall überstanden und daß sogar das jüngste Kind gelernt hatte, allein zu der Felsenhöhle zu watscheln, wenn der Feind am Himmel angekündigt wurde. Damit seine Frau mit den Kindern nicht so weit laufen mußte, wenn er selber seinem Geschäft nachging, hatte er seine Hütte in der Nähe des Höhleneingangs errichtet, und dort war es recht gemütlich.
»Trotzdem ist das kein gutes Leben«, sagte Mayli. »Es muß einmal ein Ende finden.«
»Alles findet einmal ein Ende«, gab der Mann fröhlich zurück. »Uns soll es nur kümmern, daß wir noch am Leben sind, wenn es soweit ist.«
Mit diesen Worten hielt er am Flußufer an. Mayli bezahlte das Fahrgeld und noch ein wenig mehr; dann betrat sie das Fährboot, das auf die letzten Passagiere wartete.
Das Boot stieß gleich darauf vom Ufer ab, denn der Fährmann war von Maylis Aussehen und ihrer guten Kleidung beeindruckt. Während er über den Fluß ruderte, stand sie da und blickte auf die narbige Stadt zurück. Wie ein geschlagenes tapferes Geschöpf war sie, ein Drache, der gekämpft hatte, verwundet worden war und gleichwohl den Kopf aufrecht hielt. Das Licht auf dem trüben Flusse ließ das Wasser durchsichtig und die Stadt noch dunkler und narbiger erscheinen.
Die Fähre trug einige frühe Fahrgäste, die alle Mayli anstarrten; aber sie sprach nicht. Am andern Ufer des Flusses wartete ein Auto auf sie, das die Allerhöchsten ihr entgegengeschickt hatten. Der Fahrer war ein junger Mann, der sie ehrerbietig begrüßte; er fuhr so rasch über die unebene Straße, daß der Wagen erbebte und in allen Fugen quietschte. Nachdem diese Fahrt zu Ende war, fand Mayli eine Sänfte vor, in der sie einen Hügel hinaufgetragen wurde. So gelangte sie mit verschiedenen Mitteln zu einem schmucklosen Backsteinhaus, das gewiß kein Palast war, und doch wohnten hier der Präsident und seine Gemahlin. Einige Wächter standen am Tor, doch wußten sie von ihrem Kommen und ließen sie durch, worauf sie über ein kleines Gartenstück zum Haus schritt. Hier führte sie ein Diener in einen schlichten Raum, halb chinesisch, halb fremdländisch ausgestattet, in dem nichts reich oder kostbar war. Sie setzte sich und wartete.
Sie hatte nicht lange zu warten, denn wenige Augenblicke später hörte sie leichte, rasche Schritte, und da war auch schon die hohe Dame selber, sehr hübsch und morgenfrisch. Sie streckte Mayli beide Hände hin, und Mayli fühlte diese starken Hände, klein und schlank und fest, die so viel hielten.
»Sie sind also die Tochter Ihrer Mutter!« rief sie. »Lassen Sie sich anschauen. Ja, Sie gleichen ihr, dieselben großen Augen und die glückbringende Nase. Ich erinnere mich, Ihre Mutter war sehr schön.« Sie ließ sich auf der fremdländischen Chaiselongue nieder – alle ihre Bewegungen waren rasch und anmutig – und zog Mayli neben sich.
Zum erstenmal in ihrem Leben war Mayli scheu und sprachlos – zu ihrem eigenen Entsetzen. Nie zuvor war es ihr widerfahren, daß die Worte nicht zu ihrer Zungenspitze rollen wollten; jetzt aber saß sie da und starrte nur die hohe Dame an. Die Gattin des Präsidenten war einfach, aber kostbar gekleidet; sie trug ein dunkelblaues Seidengewand mit kurzen Ärmeln. Darüber hatte sie ein Samtjäckchen von der gleichen Farbe an, und dieser dunkle Ton brachte ihre helle Haut und ihre roten Lippen zu besonderer Wirkung. Dies war ein sehr schönes Gesicht; die Züge an sich waren schon schön, was es jedoch höchst bemerkenswert machte, das war die stolze Klugheit in den Augen, die Veränderlichkeit des Mundes, die furchtlose Haltung des Kopfes, der sich über dem schlanken, sehr anmutigen Körper reckte. Sie war nicht mehr jung, diese Dame, aber sie sah unzerstörbar jung aus. Von ihrem Temperament hatte Mayli schon viel Geschichten vernommen, und diesen Geschichten glaubte sie jetzt, denn in der Frau war zuviel Kraft und Leidenschaft, als daß sie ein ruhiges Temperament hätte haben können.
»Erzählen Sie mir nun von Ihrem Vater«, sagte die hohe Dame lächelnd. »Der Präsident hält große Stücke auf ihn, müssen Sie wissen. Ja, er hört manchmal sogar auf seinen Rat, und dann werde ich eifersüchtig.«
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