Das Geschenk der Wölfe
Cocteaus
Die Schöne und die Bestie
. Bald fielen Reuben die Augen zu. Es irritierte ihn, dass die Bestie mit der Schönen fließend Französisch sprach. Außerdem trug sie Samt und Seide, und ihre Augen glitzerten befremdlich. Die Schöne hingegen erinnerte ihn an Laura.
Er träumte, dass er in Wolfsgestalt durch endlose Graslandschaften lief, mühelos und schnell. Hinter der Ebene lag ein Wald, ein endloser dunkler Wald voller Städte. Ihre Glastürme reichten bis zu den höchsten Douglastannen und Mammutbäumen. Efeu umrankte Gebäude, die von hohen Eichen gesäumt wurden, und die Schornsteine auf ihren Spitzdächern rauchten. Die ganze Welt war ein einziger Wald mit Häusern und Türmen.
Das Paradies.
Immer höher kletterte er in die Bäume.
Er wollte aufwachen und Laura von dem Traum erzählen, aber er wusste, dass der Traum dann enden würde, und das wollte er nicht. Als es in seinem Traum Nacht wurde, erstrahlten die Türme in gleißendem Licht, das den ganzen Wald erhellte.
«Das Paradies», flüsterte er und öffnete die Augen.
Laura stützte sich auf den Ellenbogen und beobachtete ihn. Das fahle Licht des Fernsehers fiel auf ihr Gesicht, ihre feuchten Lippen.
Begehrte sie ihn auch in seiner jetzigen Gestalt? Einen ganz gewöhnlichen jungen Mann, dessen Hände nicht mehr Kraft hatten als die seiner Mutter?
Tatsächlich begehrte sie ihn auch jetzt. Sie begann ihn leidenschaftlich zu küssen, seine Brustwarzen zu streicheln, und ihr plötzliches Verlangen erschreckte ihn. Sie bearbeitete seine Haut, wie er ihre bearbeitet hatte. Zärtlich kratzte sie ihm mit den Fingernägeln übers Gesicht, fuhr mit den Fingern über seine Zähne und kniff ihm in die Lippen. Ihr Gewicht fühlte sich gut an, das Kitzeln ihrer lang herunterhängenden Haare. Nackte Haut auf nackter Haut. Die feuchte Stelle zwischen ihren Beinen. Sein Fleisch. Ja!
Ich liebe dich, Laura.
Bei Sonnenaufgang wachte er auf.
Es war die erste Nacht seit seiner ersten Transformation, in der er sich nicht verwandelt hatte. Einerseits fühlte er sich erleichtert, aber er war unruhig und hatte das Gefühl, etwas Wichtiges verpasst zu haben. Hatte man ihn irgendwo vergeblich erwartet? Hatte er an etwas Verrat begangen, das jetzt Teil von ihm war? War das schlechte Gewissen, das sich in ihm regte, wirklich seins?
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32
S ieben Tage vergingen, bis Stuart so weit genesen war, dass Reuben ihn wieder besuchen durfte.
Wie vereinbart hatte er sich bei Dr. Cutler die letzte Tollwutimpfung abgeholt, aber die Ärztin verbot ihm, Stuart zu besuchen, solange er hohes Fieber hatte. Auch nach der Spritze blieb sie mit Grace in Verbindung, und kurz darauf kam Grace nach Santa Rosa, um bei der Behandlung des Jungen zu helfen. Reuben fühlte sich unendlich erleichtert. Auch dass sie, im Gegensatz zu Dr. Cutler, mit Reuben über den Jungen sprach, wusste er zu schätzen. Dr. Cutler war zwar sehr freundlich zu ihm, verweigerte aber jegliche Auskunft über Stuarts Gesundheitszustand. Nur einmal rutschte ihr heraus, dass der Junge einen erstaunlichen Wachstumsschub hatte, den sie sich nicht erklären könne. Aber er sei ja auch erst sechzehn, da sei es ganz normal, dass er noch wachse, einen Schub wie diesen habe sie allerdings noch nie gesehen. Sogar sein Haar wachse ungewöhnlich schnell.
Reuben konnte es nicht abwarten, ihn zu sehen, aber wie sehr er auch drängte, Dr. Cutler blieb hart.
Grace war auskunftsfreudiger, vorausgesetzt, Reuben veröffentlichte kein Wort von dem, was sie ihm anvertraute. Reuben schwor absolutes Stillschweigen.
Ich will doch nur, dass er überlebt, dass es ihm gutgeht und dass er bleibt, wie er war.
Trotz Fieber und vereinzelter Rückschläge war der Junge laut Grace auf dem Wege der Besserung. Im Übrigen weise er sämtliche Symptome auf, die sie von Reuben kannte. Seine Wunden heilten in null Komma nichts, selbst seine gebrochenen Rippen seien wieder zusammengewachsen, seine Haut strahle vor Vitalität, dazu dieses unglaubliche Wachstum.
«Bei ihm geht alles noch schneller als bei dir», sagte sie. «Aber er ist ja auch noch so verdammt jung. Schon ein paar Jahre können einen großen Unterschied machen.»
Von den Antibiotika, so Grace, habe er einen starken Hautausschlag bekommen, der aber genauso schnell wieder verschwunden sei. Das Fieber sei zwar beängstigend, aber der Junge habe keinen Infekt und jeden Tag sei er für einige Stunden ganz klar, so klar, dass er Besuch verlangte und aus dem Fenster zu
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