Das Geschenk des Osiris
Gedanken nach.
Wo war sie bloß?
Eigentlich war es ihr egal. Es zählte einzig und allein, dass hier Menschen waren, denen ihr Wohlergehen anscheinend am Herzen lag. Sie kümmerten sich um sie, gaben ihr zu essen und zu trinken und pflegten sie. Wann war so etwas in den letzten Monaten vorgekommen? Bisher hatte sie in Kemi nur Schmerzen und Ekel kennengelernt. Senbi hatte versucht, ihren Willen zu brechen, und er hatte es geschafft. Satra hatte sich seiner Willkür gebeugt, um nicht ständig Prügel zu beziehen. Diese hatte sie dennoch erhalten, völlig grundlos, nur um Senbi oder seine Gehilfen zu erfreuen. Zudem verdankte sie dem Kaufmann, dass sie fortan ihrer Freiheit beraubt sein würde und ihr Leben in Leibeigenschaft fristen sollte.
Die Tränen traten ihr in die Augen, wenn sie daran zurückdachte. Gleichzeitig loderte unsägliche Wut in ihr auf, eine Gefühlsregung, die sie sich seit Langem verboten hatte.
Die Tür hinter ihrem Kopf wurde geöffnet, und es kam jemand herein.
Satra schluckte die Tränen und den Hass hinunter und blickte auf, doch es war nicht der dunkelhäutige Nubier, der sie gewaschen und ihr etwas zu trinken gegeben hatte, sondern ein sehr hochgewachsener, gut aussehender Mann mit gebieterischen Gesichtszügen. Er trug Ledersandalen und einen einfachen weißen Schurz. Um den Hals hatte er ein goldenes Amulett des Osiris mit einer Atef-Krone aus Lapislazuli hängen. Auch sein Haupt war kahl geschoren, sodass für Satra allmählich feststand, dass sie sich in einem Tempel befinden musste. Wortlos verharrte er neben ihrem Lager und betrachtete sie. Dann ging er wieder, ohne eine Silbe an sie gerichtet zu haben.
Eine weitere Person betrat den Raum. Es war der Syrer, der sich niederkniete und Satra etwas von der warmen Brühe zu trinken gab. Sie lächelte ihn dankbar an und versuchte, sich verständlich zu machen.
»Wo bin ich?«, krächzte sie, aber der Mann sah nur stumm und teilnahmslos auf sie herab. »Ich ... ich heiße ...«, schnell überlegte sie, ob sie ihm ihren richtigen Namen oder ihren neuen nennen sollte, und entschied sich für den kemitischen, »ich heiße Satra. Wie heißt du?«
Der Syrer sah sie nur weiterhin mit versteinerter Miene an.
»Er ist seit seiner Geburt stumm«, hörte Satra stattdessen die raue Stimme eines weiteren Mannes, der unbemerkt in den Raum getreten war. Es war jener, den sie bereits am Morgen zusammen mit dem Nubier gesehen hatte. »Wir nennen ihn Dedi.« Er blieb neben dem am Boden knienden Syrer stehen. »Und ich bin Arzt. Mein Name ist Paheri, aber du wirst
Herr
zu mir sagen!«
Satra versuchte zu nicken. »Wo ... wo bin ich?«, fragte sie.
»Du befindest dich in Abydos, im Haus des Großen Gottes Osiris.«
Sie atmete hörbar auf. – Abydos, Osiris!
Osiris war eigentlich der einzige Gott, dem sie etwas abgewinnen konnte. Warum, das wusste sie selber nicht.
»Du warst und bist noch immer ziemlich schwer verletzt«, sprach Paheri weiter. »Vor fünf Tagen wurdest du zu mir gebracht und bist seitdem ohne Bewusstsein gewesen. Du hast drei gebrochene Rippen, ein kleines Loch im Schädel und viele kleinere und größere Prellungen und Wunden, aber du wirst wieder gesund werden.«
Er gab Dedi, der ein Gehilfe oder Diener war, ein Zeichen, von ihrem Lager zurückzutreten. Dann hockte er sich selbst neben Satra und begann, ihre Wunden auf den Verlauf des Heilungsprozesses zu untersuchen. Nachdem er geendet hatte, ging er, ohne seit dem Beginn seiner Untersuchung ein weiteres Wort an sie gerichtet zu haben. Der syrische Diener folgte ihm
Satra hingegen schloss die Augen und fiel in einen unruhigen Schlaf.
VIERZEHN
Erneut herrschte Trauer im Königspalast. Die Nachricht vom Tod des Thronfolgers hatte sich in Windeseile im Land verbreitet, und geschockt hatten die Menschen darauf reagiert. Da ein Thronfolger jedoch kein Gott war, wurde für ihn die siebzig Tage andauernde Trauerzeit auch nur durch die Familienangehörigen eingehalten, während im gesamten Land das Leben wie gewohnt seinen Lauf nahm.
Isis, die Große Königliche Gemahlin, hatte sich mit ihrem Schmerz in ihren Gemächern verkrochen und ließ neben dem Pharao nur die engsten Familienmitglieder zu sich vor. Ihren Bruder Merenptah allerdings, der sich alleine die Schuld am Tod des Prinzen gab, wollte sie nicht sehen.
Der Oberst der Leibwache litt schwer unter seinem Versagen. Ramses hatte ihn streng getadelt, ihn aber nicht seines Amtes enthoben.
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