Das Geschenk: Roman
sind Großmütter nun mal da. Außerdem ist Weihnachten. Wer möchte da schon alleine sein?«
»Da kann ich Ihnen nur beipflichten«, meinte Tom, nachdem er sich vorgestellt hatte.
Sie reichte ihm die Hand. »Pauline Beacon.«
»Wohnen Sie in der Nähe von Washington?«
»Ja, in Springfield, Virginia. Und Sie?«
»Mitten in D.C.«
»Ich weiß nicht, wie man diesen Verkehr ertragen kann«, meldete der Mann sich zu Wort, der gelesen hatte. Er war Mitte vierzig, hatte eine beginnende Glatze und einen beachtlichen Bauch. »Ich bin auf der Rückfahrt nach Toledo. Hatte geschäftlich in Washington zu tun, musste mir einen Wagen mieten und auf dem verflixten Autobahnring herumfahren. Ich weiß nicht, wie Sie damit fertig werden. Es ist der reinste Wilde Westen auf Rädern. Total verrückt.« Er schüttelte den Kopf. »Übrigens, mein Name ist Rick«, stellte er sich vor. »Nennen Sie mich einfach Toledo Rick.«
»Ich schließe daraus, dass Sie alle die Eisenbahn lieben«, stellte Tom fest.
»Ich fliege nicht gern«, gestand Pauline. »Und Eisenbahnen verbinden mich irgendwie mit meiner Kindheit. Wie ist es bei Ihnen?«
Tom hob die Schultern. »Ich fliege sehr viel, aber es wurde irgendwie langweilig. Also habe ich mir gesagt, dass ich mal versuchen sollte, auf zivilisiertere Art und Weise vom Fleck zu kommen.«
»Nun ja«, sagte Rick mit leisem Spott, »im Augenblick kommen wir überhaupt nicht vom Fleck. Normalerweise fliege ich auch, aber ich konnte ein besonders billiges Eisenbahnticket ergattern.« Er schaute hinaus und runzelte die Stirn. »Im Augenblick sieht’s allerdings so aus, als wäre es kein besonders gutes Geschäft gewesen. Immerhin kann ich davon ausgehen, dass ich Weihnachten zu Hause bin.«
»Haben Sie Familie?«
»Eine Frau und sechs Kinder. Vier sind noch im Teenageralter, drei davon Mädchen. Ich verstehe sie und ihr Verhalten nicht mal ansatzweise.«
»Mädchen sind nun mal anders«, sagte Pauline.
Der Mann mit den Kopfhörern verfolgte jetzt das Gespräch. Er stellte sich als Ted aus Milwaukee vor. »Auch Jungs sind schwierig«, sagte er. »Ich habe vier von der Sorte, alle schon erwachsen. Als der erste geboren wurde, hatte ich noch volles Haar, beim letzten hatte ich fast schon Glatze.«
In diesem Moment kam Agnes Joe mit einem Bier herein und setzte sich zu ihnen. Tom schob die Schüssel mit den Knabbereien in ihre Reichweite. Agnes Joe leerte sie im Handumdrehen. Sie stellte sich nicht vor. Genau wie im Speisewagen schien jeder Anwesende sie zu kennen.
»Wie ist es mit Ihnen, Tom?«, fragte Rick. »Wohin wollen Sie? Zu Ihrer Familie?«
Tom schüttelte den Kopf. »Ich habe keine.«
»Na, na. Jeder hat irgendwo Familie«, widersprach Pauline.
»Nicht jeder«, stellte Agnes Joe richtig. »Ich bin auch allein.«
»Ich habe nicht behauptet, dass ich allein bin. Ich bin Reporter und war fast überall auf der Welt. Ich habe Freunde in sechzig, siebzig Ländern der Erde.«
»Freunde sind Freunde, aber Familie ist Familie«, meinte Pauline, und wahrscheinlich hatte sie Recht.
»Geschieden oder noch nie verheiratet?«, wollte Agnes Joe wissen, während sie ein paar Salzmandeln kaute. Als Reaktion auf Toms verwunderten Blick schaute sie vielsagend auf seinen nackten Ringfinger.
»Geschieden. Allerdings war meine Ehe so kurz, dass ich mich nie richtig verheiratet gefühlt habe.«
»Offenbar haben Sie nicht die richtige Frau geheiratet«, sagte Pauline.
»Wie kann man da sicher sein?«, fragte Toledo Rick.
»Ach, da gibt es viele Möglichkeiten«, antwortete Agnes Joe. »Meistens ist es so, dass man es spürt. Zum Beispiel, dass es einem völlig egal ist, ob man isst, trinkt, schläft oder auch nur atmet, solange man mit dem oder der Betreffenden zusammen ist.« Sie sah Tom fragend an. »Haben Sie das schon mal bei jemandem empfunden?«
Alle warteten gespannt auf Toms Antwort.
»He, das wird aber jetzt ziemlich persönlich«, stellte er fest.
»So ist das nun mal, wenn man mit der Eisenbahn fährt«, sagte Pauline lächelnd, während sie gemütlich zwei links, zwei rechts weiterstrickte.
Tom lehnte sich zurück und blickte ein, zwei Sekunden aus dem Fenster.
»Wie hieß sie denn?«, fragte Agnes Joe leise.
»Eleanor.«
»Ist es lange her, seit Sie Eleanor das letzte Mal gesehen haben?«
»Es ist überhaupt nicht lange her.« Tom tauchte aus seinen Grübeleien auf. »Aber was vergangen ist, sollte man nicht wieder aufwärmen. Ich will nach Los Angeles. Dort treffe ich meine
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