Das Geschenk: Roman
Tradition an. Regina hat mir erzählt, dass Sie viel mit der Eisenbahn reisen. Und mir scheint, viele Leute im Zug kennen Sie.«
»Oh, ich bin nun mal ein freundlicher Mensch. War ich schon immer. Nur weil ein Mädchen klein, zerbrechlich und sehr schüchtern ist, muss es nicht die ganze Zeit das arme Mauerblümchen spielen.«
Zuerst glaubte Tom, sie meinte diesen Unsinn tatsächlich ernst, dann aber musste sie über ihren eigenen Scherz lachen, und Tom gelangte widerstrebend zu dem Schluss, dass Agnes Joe offenbar doch nicht so übel war. Wenn sie sich nur von seinen Nieren und seinen persönlichen Dingen fern halten würde, wäre alles in bester Ordnung.
»Diese Frau, zu der Sie fahren … haben Sie ernste Absichten mit ihr?«
»Kommt darauf an, was Sie ›ernst‹ nennen«, sagte Tom. »Wir sehen uns seit drei Jahren mehr oder weniger regelmäßig.«
»Mehr oder weniger? Was ist das? Eine kalifornische Spezialität in Sachen Beziehung?«
»Es ist unsere Spezialität.«
»Nun, ich würde Ihnen nicht raten, zu heiraten. Ich habe es zweimal versucht, und beide Male hat es nicht geklappt.«
»Haben Sie Kinder?«
»Ein Mädchen, natürlich längst erwachsen. Aus meiner ersten Ehe. Ich habe meinen ersten Mann kennen gelernt, als wir bei Ringling Brothers gearbeitet haben.«
»Sie waren beim Zirkus? In der Verwaltung?«
»O nein. Ich gehörte zu den Akrobaten. Kunstreiterin, Artistin. Als ich jung war, bin ich sogar bei einer Hochseilnummer aufgetreten.«
»Am Trapez?«
Sie sah ihn ein wenig ungehalten an. »Auf dem Seil . Ich war damals ein bisschen leichter. Meine Tochter ist immer noch beim Zirkus.«
»Sehen Sie sie oft?«
»Nein.« Agnes Joe schnappte sich ihr Bierglas und ging hinaus. Eigentlich hätte Tom erleichtert sein müssen, doch er war es nicht. Die Frau schien einen immer größeren Teil seines Lebens in Beschlag zu nehmen; sie war wie eine Warze, die sich immer mehr bemerkbar macht. Doch sie hatte bei Tom nicht nur reine Neugier geweckt. Bei Agnes Joe gab es gewisse Ungereimtheiten ihre Vergangenheit betreffend, die den Enthüllungsreporter in Tom wachrüttelten.
Während er dasaß und nachdachte, rollte der Zug durch den Graham-Tunnel und bremste kurz darauf, als er sich Cumberland, Maryland, näherte. Die Stadt war früher »Königin der Alleghenies« genannt worden. Der Cap durchquerte Cumberland auf dem Mittelstreifen der Hauptstraße. Tom sah Klinker- und Holzgebäude, ein Holiday Inn, ein McDonald’s und einen Laden namens Discount Liquors, der bei den Bewohnern wahrscheinlich besonders beliebt war, denn die Stadt machte insgesamt einen sehr durstigen Eindruck.
Bald würden sie die Grenze nach Pennsylvania überqueren. Die Staatsgrenzen hatten hier einen ziemlich seltsamen Verlauf. Es kam sogar vor, dass die Lokomotive und das Ende des Zuges sich in Maryland befanden, während der Mittelteil durch West-Virginia rollte. Dies erklärte sich daraus, dass einerseits die Grenze zwischen Pennsylvania und Maryland einen schnurgeraden Verlauf hatte, während die Punkte, an denen West-Virginia und Maryland zusammenstießen, sich den Gegebenheiten der Landschaft anpassten. Als sie schließlich den Gap, die berühmte Gebirgslücke, hinter sich gebracht hatten und sich in Pennsylvania befanden, hatte Tom sämtliche Rätsel der offiziellen Staatsgrenzen gelöst.
Während er versonnen beobachtete, wie draußen vor dem Fenster erste Schneeflocken einen fröhlichen Tanz aufführten, kamen Eleanor und Max herein, gefolgt von dem stets dienstbereiten Kristobal. Tom atmete tief durch, leerte sein Glas und zog in Erwägung, bei seinem Freund Tyrone gleich eine ganze Batterie Cocktails zu bestellen. Er war sicher, dass er jeden Tropfen Alkohol brauchen würde, um das nun folgende Intermezzo zu überstehen.
KAPITEL 12
Max und Kristobal trugen noch die gleiche elegante Kleidung wie zuvor. Kristobal hatte sogar immer noch das Headset am Ohr und das Handy in der Gürtelhalterung und kam in einer Art und Weise herein, die an einen futuristischen Revolverhelden erinnerte, der Streit suchte. Eleanor hingegen hatte sich für einen langen türkisfarbenen Rock und eine weiße Baumwollbluse mit einem Kettengürtel um ihre schlanke Taille entschieden. Das Haar trug sie hochgesteckt. Vielleicht, ging es Tom durch den Kopf, hatte sie in ihrer kleinen Waschzelle geduscht, und er stellte sich vor, wie das warme Wasser über ihre langen, geschwungenen … Nein, er durfte diesen Gedanken auf keinen Fall
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