Das Geschenk: Roman
eine besondere Anziehungskraft auf sie auszuüben, vor allem die Rauchersalons«, sagte er. »Ich habe sogar mal gehört, dass Schachgroßmeister inkognito mit den Zügen fahren und gegen jeden spielen, der Lust auf eine Partie hat, nur um in Form zu bleiben. Gelegentlich verlieren sie auch mal.«
Warum sollten Schachgroßmeister inkognito reisen, fragte sich Tom. Doch er schwieg und schaute zu. Der Typ war gut, sogar richtig gut. Die durchschnittliche Dauer eines Spiels betrug gerade mal zehn Minuten. Während der Verlierer beschämt das Schlachtfeld räumte, lachte er nach jedem Sieg. Er lachte! Und dann rief er mit lauter Stimme und in herablassendem Tonfall: »Der Nächste bitte!« Hätte Tom nur den Hauch einer Chance gehabt, diesen Burschen zu schlagen, hätte er es versucht, aber er hatte schon beim Damespiel seine liebe Not, die Übersicht zu behalten.
Nach einer Weile verabschiedete Father Kelly sich. Tom erwartete nicht, ihn an diesem Abend noch einmal wiederzusehen, denn der Priester hatte einiges getrunken, und die anschließende Zigarre hatte ihm offenbar den Rest gegeben. »Wenn ich jetzt eine Messe lesen müsste, wäre ich wohl kaum in der Lage dazu. Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich Ihnen sagen kann, aus wie vielen Teilen die Heilige Dreifaltigkeit besteht, selbst wenn Sie mir den einen oder anderen Tipp geben.«
Tom wünschte ihm eine gute Nacht und durfte dann erleben, wie Eleanor sich erhob und den Schachkönig herausforderte, der, wie sie mittlerweile wussten, auf den wildwesterprobten Namen Slade hörte. Ellie war die einzige Frau im Rauchersalon, daher richteten alle Augen sich auf sie, als sie dem Objekt des allgemeinen Hasses gegenüber Platz nahm. Als sie den ersten Zug machte, strahlte Slades Gesicht eine solch überhebliche Selbstsicherheit aus, dass Tom dem Kerl am liebsten seine Schachfiguren ins Maul gestopft hätte. Er hatte nicht einmal gewusst, dass Eleanor überhaupt Schach spielte … aber dann fiel es ihm wieder ein: Während ihrer Zeit in Israel waren sie mit einem Rabbi befreundet gewesen, der ein außerordentlich guter Schachspieler war. Er hatte Eleanor eine Strategie beigebracht – nur eine –, aber die war fast immer narrensicher. Man konnte schon nach drei Zügen erkennen, ob der Gegner darauf hereingefallen war. Und diese Strategie schien bei den talentiertesten Spielern am besten zu funktionieren, vor allem, wenn sie zu siegessicher waren.
Drei Züge später bemerkte Tom bei Eleanor den Anflug eines Lächelns, und er ertappte sich dabei, wie er selbst mit einem verschwörerischen Lächeln darauf reagierte. Vier Züge später konnte der mächtige Slade mit seinem modisch zerzausten Haar nur noch ungläubig aufs Schachbrett starren. Eleanor hatte seinen schwarzen König im Schach, und Slade hatte keinen anderen Fluchtweg mehr als in Richtung von Eleanors weißer Dame oder ihres Turms. Die Raucher entrangen ihren teerverseuchten Lungen heisere Hochrufe und bedachten die Siegerin sogar mit einer stehenden Ovation. Durch den Alkohol und einen Ansturm von Gefühlen in ausgelassene Stimmung versetzt, klatschte Tom in die Hände, bis sie ihm wehtaten. Slade klemmte sich das Schachbrett und den Kasten mit den Figuren unter den Arm und murmelte irgendetwas von Anfängerglück. Hätte Eleanor nicht jemanden in Washington gehabt, Tom hätte sie geküsst.
Während er sie anschaute, schoss ihm eine Vielzahl von Möglichkeiten durch den Kopf. Er war wieder fünfundzwanzig Jahre alt, und er und Eleanor waren im Begriff, die Welt aus den Angeln zu heben, mit einer Sensationsstory nach der anderen. Nichts erschien ihnen unmöglich.
Tom konnte noch vier weitere Minuten in diesem wundervollen Gefühl schwelgen, dann sollte es abrupt verfliegen.
KAPITEL 14
Die Gestalt, die Toms Schlafwagen betrat, war schwarz gekleidet und hatte die Absicht, sich einen teuer aussehenden Füllfederhalter anzueignen. Dann wurde Father Kellys silbernes Kreuz gestohlen. Anschließend huschte der Dieb zu den anderen Erster-Klasse-Schlafabteilen, entwendete Max’ vergoldete Geldklammer, Eleanors silberne Haarbürste und Kristobals vierhundert Dollar teure Sonnenbrille. Die letzte Station für diesen Abend war Gordon Merryweathers Suite, wo der Dieb sich die elegante Uhr des Rechtsanwalts schnappte, außerdem Bargeld und den Palm Pilot. Die kriminelle Aktion nahm nicht mehr als zehn Minuten in Anspruch, denn die Person war bestens geübt in der Kunst des Einbruchs. Niemand wurde Zeuge der Diebstähle.
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