Das Geschenk: Roman
Eliminierungsprozess. Ein evolutionärer Kreislauf, sozusagen.« Patrick schob die Brille zurecht, als wäre er ein junger Lehrer, der seiner Klasse einen Vortrag hielt.
»Darf ich das noch mal hören?«
»Zuerst kommt die Zahnfee. Man verliert einen Zahn und legt ihn unters Kopfkissen, und am nächsten Tag ist der Zahn verschwunden, und an seiner Stelle findet man Geld. Aber mit fünf oder sechs Jahren entdecken die meisten Kinder, dass es bloß ein Märchen ist. Ich bin allerdings um einiges früher dahinter gekommen.«
»Du bist jetzt zehn, Patrick«, warf sein Bruder Tony ein, »und legst deine Zähne immer noch unters Kopfkissen.«
»Weil ich das Geld haben will, Tony, nicht weil ich immer noch an die Geschichte glaube.« Patrick wandte sich wieder an Roxanne. »Und dann kommt der Osterhase an die Reihe – noch so ein Schwindel, den man ungefähr mit sieben Jahren aufdeckt. Als Nächster ist der Weihnachtsmann fällig. Der Typ, der ihn heute Abend gespielt hat, war doch einer von den Zug...«
Roxanne sah, dass die jüngeren Kinder jeden Moment in Tränen auszubrechen drohten. »Erzähl nur weiter, Patrick«, unterbrach sie ihn, »und lass uns gleich auf den lieben Gott zu sprechen kommen.«
»Okay. Wenn es einen lieben Gott gäbe – warum lässt er so was zu? Eigentlich sollten wir jetzt zu Hause sein und mit unseren Familien Weihnachten feiern. Stattdessen sitzen wir mitten in einem Schneesturm fest, und uns gehen allmählich der Sprit und die Lebensmittel aus. Wie kann ein lieber Gott, falls es ihn gibt, so was geschehen lassen?«
Trotz seines selbstsicheren Vortrags hatte Patrick, wie Roxanne deutlich spüren konnte, mindestens so viel Angst wie die anderen Kinder. Im Grunde hoffte er, dass Roxanne ihm überzeugend darlegte, dass es tatsächlich einen lieben Gott gab, anstatt ihm beizupflichten, dass kein Gott existierte.
Sie ließ Patrick neben ihr Platz nehmen und setzte Oliver auf ihren Schoß. »Weiß du, wo dein Fehler liegt, Patrick? Du meinst, dass es etwas Schlimmes ist, dass wir hier festsitzen.«
Patrick fummelte an seiner Brille herum. »Ist es denn nicht schlimm?«
»Gar nicht so sehr. Schauen wir uns doch mal die Tatsachen an. Was ist heute passiert?«
»Es hat unheimlich geschneit, und die Küche hat nichts mehr zu essen.«
»Und was noch?«
Oliver meldete sich zu Wort. »Wir haben Weihnachten gefeiert und Geschenke ausgepackt. Das war toll!«
»Das hätten wir auch bei unseren Familien tun können«, konterte Patrick.
»Stimmt«, sagte Roxanne. »Aber hatten eure Familien Angst, oder waren sie hungrig? Waren sie an einem fremden Ort und mit Leuten zusammen, die sie nicht kennen?«
Der Junge dachte darüber nach. »Hm … nein.«
»Aber die Menschen in diesem Zug sind es, stimmt’s? Eigentlich wollen sie gar nicht hier sein, denn das hier ist nicht ihr Zuhause, nicht wahr? Die Leute möchten viel lieber bei ihren Verwandten sein, bei ihren Familien und Freunden.«
»Genau!«, krähte Oliver begeistert.
»Aber darum geht’s mir doch«, sagte Patrick.
»Nein. Wenn ich mich recht entsinne, geht es dir um die Frage, wie es einen Gott geben kann, wenn es denn wirklich so schlimm ist, wenn viele Leute zusammen sind, die sich nicht kennen, die Angst haben und hungrig sind und zu Weihnachten an allen möglichen Orten sein wollen, nur nicht hier – und die nun den Abend gemeinsam verbringen, eine Menge Spaß haben, miteinander lachen und singen und Geschenke, die sie für ihre eigenen Familien gekauft haben, Leuten geben, die sie nie zuvor gesehen haben.«
Sie blickte fragend zu Tom und Eleanor hoch. »Ihnen hat es heute Abend doch sicher gefallen, oder?«
Eleanor lächelte die Kinder an. »Ich habe selten ein so schönes Weihnachtsfest erlebt.«
»Ich glaube, da ist was dran«, gab Patrick zu.
»Vielleicht hat Gott dafür gesorgt«, fügte Tom hinzu, »dass du mit diesem Zug fährst, damit du hier singen und den Leuten helfen konntest, eine Zeit lang ihre Angst zu vergessen, indem sie schöne Musik hören.«
»Genau!«, rief Oliver aufgeregt.
»Hm, ja, mag sein«, pflichtete Patrick ihm bei.
»Seht ihr?«, sagte Roxanne, während sie Oliver zudeckte und Patrick dann zurück zu seinem Platz brachte. »Man sagt, dass es nicht immer ganz einfach zu erkennen ist, was Gott vorhat. Ihr müsst schon genau darüber nachdenken. Ihr könnt nicht träge vor euch hin leben und an Gott glauben. So leicht macht er es einem nicht. Man braucht Kraft und Vertrauen und Leidenschaft, um
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