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Das Gesetz des Irrsinns

Das Gesetz des Irrsinns

Titel: Das Gesetz des Irrsinns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Kühn
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braun bespannten Liege; ein Frotteehandtuch, zusammengefaltet, am Kopfende. Im Sichtfeld ein offener Schrank mit Flaschen, Fläschchen, Dosen, Packungen. Auf dem Tisch eine Schreibmaschine, bereits unter staubschützender Hülle. Karteikästen, Aktenordner, Fachbücher. Während der Onkelarzt den Bauch abtastete, mit unterschiedlichem Druck, berichtete ich: Oft anhaltender Schmerz, der sich nicht mal durch Cognac dämpfen, schon gar nicht betäuben lässt. Das Gefühl, als wäre der Magen mit einer trockenen, leicht kratzigen Folie ausgekleidet. Komme ich richtig in Fahrt bei der Arbeit, lasse ich die Schmerzen gleichsam hinter mir; kaum aber verlasse ich mein Dienstzimmer, holt mich die lästige Begleiterscheinung wieder ein.
    Mir wurde Heilerde verschrieben – Heilerde neutralisiert, absorbiert, bekam ich zu hören. Kaum, dass ich das Wort Heilerde tippe, knirscht es mir zwischen den Zähnen, obwohl ich heute Abend noch nicht den obligatorischen Esslöffel verrührt habe im Schlabbertee. Die erwünschte, die ersehnte Wirkung wird wohl erst eintreten, wenn ich die halbe Tüte ausgelöffelt habe.
    Erst nach der Untersuchung kam ein Gespräch, oder eher: kam die Suada des alten Herrn in Gang. Ja, Siegburg: Das hätten die lokalen Parteigrößen gern zur Sieg-Burg ernannt, »nomen est omen«. Vor allem der Kreisleiter sähe Siegburg am liebsten als Festungsstadt, zumindest als Festungsstädtchen, würde dem Führer gern melden, man sei gewappnet gegen den Ansturm der Mächte aus dem Westen. Die kannst du ja schon hören, so der Onkel: Wenn der Wind aus Westen kommt, rumpelt es mächtig – unsere Kriegs-Wetterecke. Was sich da raushören lässt: Mit Munition müssen
die
nicht sparen!
    Sieg-Burg?! Wie die Parteigenossen das hier aussprechen, klingt es nicht sehr siegesgewiss, hört sich eher an wie »Siechburch, Sieschburch«. Passend zur regionalen Aussprache wächst die Zahl der Siechen unablässig, fast jeder, der in den Volkssturm soll, taucht hier auf, zeigt mir verdickte Fingergelenke, dreht mir krumme Rücken zu, fragt, wie man mit all der Verkrümmung und Vergichtung das Beutegewehr aus Belgien oder der Tschechei bedienen soll, pro Stück mit fünfzehn oder nur fünf Patronen, da können die ja gleich Flitzebögen verteilen. Und so schreibe ich krank, schreibe krank, werde zum Diplom-Krankschreiber, gerate in Verschiss bei der lokalen Parteileitung, die so gern auch die Kriegsführung übernehmen möchte, der Kreisleiter, altgedienter SA -Mann, früher Spielwarenhandlung, hat über Nacht strategischen Weitblick entwickelt, zumindest taktischen Nahblick, ich hingegen, meines Zeichens Arzt, ich schwäche die Sieschburger Front, immer mehr Senioren winken mit einem Attest, stets mit meiner Unterschrift, mit meinem Stempel. Wenn ich nicht schon drei Jahre über dem Grenzwert wäre, ich müsste auch noch ran. Was man so hört aus dem Grenzgebiet, Kampfgebiet – absolut entmutigend! Rentner um die sechzig sollen zuweilen mit Fußtritten, Stockschlägen, Kolbenstößen in den Kampf getrieben werden. Viele haben nicht mal ein Kochgeschirr, eine Zeltplane. Weil ich nicht beitrage zur Mobilisierung dieses allerletzten Aufgebots, bin ich in Verschiss geraten: das Schreckgespenst der Wehrkraftzersetzung. Weil du schon mal hier bist, in der schnieken Uniform: Tu mir den Gefallen, marschier ein paar Mal die Straße auf und ab, kreuz vor dem Haus der Parteileitung auf, erklär jedem, der dich fragend anschaut, dass du mein Neffe bist, da hört das lästige Gequatsche zwar nicht auf, aber es wird vielleicht was leiser. Na, und wie seht ihr in Berlin die Lage?
    Da konnte ich nur andeuten: Eigentlich wissen wir seit dem Sommer, dass der Krieg verloren ist, aber der lässt und lässt sich nicht stoppen. Es wird soviel Kriegsmaterial produziert wie nie zuvor, das liefern wir nicht einfach dem Ami, Tommy oder Iwan aus.
    Während ich dies tippe, knirscht es noch immer zwischen den Zähnen, obwohl die Abenddosis längst absorbiert sein müsste. Zähneknirschend also tippe ich weiter, Stichwort: Vater in Koblenz.
    Der übt unverdrossen seinen Dienst aus in der Schiffszählstelle, obwohl es nichts mehr zu zählen gibt, abgesehn von regional begrenztem Bootsverkehr. Die Dampfer, die Schlepper, die Leichter – zu viele Wracks (und Brücken) im Wasser, blockierend. Doch beinah trotzig bezieht Vater Stellung im Dienstraum der Schiffszählstelle. Dabei wird man ihn sowieso nicht holen können zum Waffendienst, das Stück vom (rechten)

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