Das Gesetz von Ta-Shima: Roman (German Edition)
Vorsichtig öffnete sie den Koffer, in dem ihre Kleidung lag – nur die Hose und die Stiefel, denn als man sie hierhergebracht hatte, hatte sie keine Tunika getragen. Die Hose war gewaschen worden; man konnte keine Spur vom Blut mehr sehen.
Mit Mühe zog Suvaïdar sich an. Es gelang ihr sogar, irgendwie die Stiefel überzustreifen. Anschließend streckte sie sich wieder auf ihrer Matte aus, weil ihr schwindelig geworden war.
Als die Ärztinnen hereinkamen, sagte sie:
»Ich möchte das Hospital verlassen. Ich bin selbst in der Lage, den Verband zu wechseln. Ich nehme hier einen Platz weg, den ein anderer nötiger hätte als ich.«
Kilara sagte nichts, doch die andere Ärztin, eine junge Frau, die Suvaïdar nicht kannte, entgegnete:
»Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist. Du musst mindestens noch einen oder zwei Tage hierbleiben.«
»Ich gehe jetzt«, sagte Suvaïdar kurz angebunden. Vorsichtig erhob sie sich von der Matte. Hoffentlich sahen die beiden nicht, wie schwach sie sich fühlte.
»Noch etwas«, fügte sie hinzu und blickte in Kilaras Richtung. »Ich habe Fior Sadaï nichts erzählt. Sie hat es allein herausgefunden, als sie die Annalen von Haridar Sadaï gelesen hat.«
»Warum hast du das nicht vorher gesagt?«, erwiderte Kilara sichtlich betroffen. »Wenn ich das gewusst hätte, wäre es nicht nötig gewesen ...«
»Schon gut«, unterbrach Suvaïdar sie. »Die Kampfansage lag bereits in der Luft. Du hast mich abgeurteilt, ohne mich zu fragen, was eigentlich passiert war. Außerdem hast du mich beleidigt, weil du mich eine halbe Sitabeh genannt hast. Wenn ich wieder auf den Beinen bin, bist du mir Rechenschaft schuldig.«
»Suvaïdar, bitte, hör mir zu ...«, begann Kilara, doch Suvaïdar unterbrach sie.
»Wenn du glaubst, die Anrede Shiro Adaï sei unter Kollegen zu förmlich, erteile ich dir die Erlaubnis, mich Huang zu nennen.« Dann wandte sie sich der anderen Ärztin zu. »Ich bitte dich, meinem Assistenten, dem Arzt, die Medikamente auszuhändigen, die ich brauche.«
»Ich kann auch selbst kommen, wenn du es vorziehst. Ich weiß nicht, ob ein Mann geeignet ist ...«
»Ich habe vollstes Vertrauen in die Kompetenz meines Sei-Hey.«
Es gelang ihr, das Lebenshaus ohne Hilfe zu verlassen. Langsam, aber aufrecht ging sie nach Hause. Würde es unterwegs irgendjemand merkwürdig finden, einer Shiro-Dame mit nackten Brüsten und nur einem Verband um den Brustkorb zu begegnen, würde er es sich nicht anmerken lassen. Es ziemte sich nicht für einen Shiro, Emotionen zu zeigen oder einen Ausdruck an den Tag zu legen, der von der kühlen, gefühlsarmen Miene abwich, wie die Etikette sie forderte. Und die Asix würden einer Shiro ohnehin keine persönlichen Fragen stellen.
Sie erreichte das Haus der Huangs und ging in ihr Zimmer. Auf dem Flur hatte sie das Pech, ausgerechnet Middael zu begegnen, dem Berater der Saz Adaï, ein Individuum, das ihr schon immer so scheinheilig vorgekommen war wie ein Außenweltler. Er genoss nicht viele Sympathien, und der Respekt, den die Mitglieder des Clans ihm bezeugten, hatte eher etwas mit seinem Amt als mit seiner Person zu tun. Suvaïdar hatte einmal jemanden sagen gehört, dass es für Middael ein großes Glück gewesen sei, Berater zu werden: Da er nicht das Recht hatte, die Verantwortlichen des Clans zu einem Duell zu fordern, hatte er es auch nicht mehr nötig, nach Ausreden zu suchen, um sich davor zu drücken.
»Mein Respekt, Altehrwürdiger«, sagte Suvaïdar zu ihm. Dabei beschränkte sie sich auf eine minimale protokollarische Verbeugung, da sie befürchtete, umzufallen, wenn sie den Kopf zu tief senkte.
Obwohl er nur ein paar Jahre älter war als sie, nahm Middael den Ehrentitel an, ohne die feine Ironie zu bemerken. Dann fragte er: »Hast du ein Problem? Brauchst du Hilfe?«
Seine Augen waren kalt und hatten einen ironischen Ausdruck, und der Klang seiner Stimme strafte die Fürsorge Lügen, die in seiner Frage mitschwang.
»Nein, aber ich danke dir für deine Freundlichkeit.«
Lieber stehend im Flur sterben müssen, als sich einzugestehen, dass sie sich schlecht fühlte. Der Mann war das Ohr von Odavaïdar; was man ihm erzählte, würde er umgehend dem Alten Drachen berichten. Irgendeine Schwäche zuzugeben, würde Suvaïdar disqualifizieren, das wusste sie. Darüber hinaus wäre es unnütz. Soviel ihr bekannt war, hatte Middael noch nie jemandem geholfen, und er würde für sie ganz sicher keine Ausnahme machen – sie, die von der Saz
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