Das Gesetz von Ta-Shima: Roman (German Edition)
Adaï nicht gerade hoch eingeschätzt wurde.
Auf jeden Fall wusste sie nur zu gut, dass einer der Asix, die sie von Zeit zu Zeit eingeladen hatte, mit ihr die Matte zu teilen, zu ihr ins Zimmer kommen würde, um sie zu unterstützen. Vor den Asix musste sie ihren Schmerz und ihre Schwäche nicht verbergen.
Doch sie hatte nicht damit gerechnet, dass ausgerechnet Tarr plötzlich in der Tür stand.
Nicht jetzt, dachte sie, als sie auf der Schwelle die kräftige Silhouette ihres Bruders sah, seine riesigen Schultern und seine zu langen Arme. Ich fühle mich schwach und könnte die Selbstbeherrschung verlieren.
»Meister«, flüsterte sie, »ich bedaure, dich nicht empfangen zukönnen, ich hatte einen kleinen Unfall. Ich bitte dich, in ein paar Tagen wiederzukommen.«
»Ich weiß sehr gut, dass du einen kleinen Unfall gehabt hast«, brummte er. »Wer, glaubst du, hat dich ins Lebenshaus getragen?«
»Du warst beim Duell dabei?«
»Welches Duell? Du hast dich wie ein Fisch auf die Harpune spießen lassen! Wage es ja nicht, dich noch einmal mit Waffen aus Metall zu schlagen!«
Suvaïdar hatte das Gefühl, dass ihr alles Blut auf einmal in den Kopf schoss. Flüsternd, weil ihr die Luft zum Atmen fehlte, antwortete sie: »Ich gehorche nur Befehlen von der Sadaï und der Alten des Clans. Ich werde mich schlagen, wann ich will und wie es mir gefällt. Ich habe dir bereits gesagt, dass ich dich jetzt nicht empfangen kann. Was immer du mir sagen willst, du kannst es meinem Bruder Oda oder meinem Jestak-Sei-Hey ausrichten.«
Tarr holte tief Luft, um etwas zu erwidern. Er brauchte immer einen kleinen Moment, um das Stottern, das ihm in jungen Jahren das Leben so schwer gemacht hatte, in den Griff zu bekommen. Doch Suvaïdar hatte nicht die Absicht, sich das anzuhören. Sie schloss die Augen, drehte den Kopf zur Wand und wartete darauf, dass er gehen würde.
Sie war überzeugt davon, dass ihre beklagenswerte Vorstellung im Fechtsaal ihr die Verachtung des ganzen Clans eingebracht hatte, doch sie irrte sich. An diesem Tag kamen viele Besucher – und nicht nur Asix, mit denen sie die Matte geteilt hatte oder die sich eine spätere Einladung erhofften. Viele Shiro schauten ebenfalls bei ihr vorbei. Sie boten ihr zwar nicht direkt ihre Hilfe an, doch alle hatten gerade zufällig etwas dabei: die einen eine volle Teekanne, andere eine Handvoll Kekse oder eine Frucht. So musste Suvaïdar nicht aufstehen, um in den Küchen nach etwas Essbarem zu suchen. Niemand ließ eine Bemerkung darüber fallen, was ihr widerfahren war, und niemand fragte sie nach ihrem Gesundheitszustand.
Die Besucher begnügten sich mit kleinen Plaudereien über die Tide, die so hoch gewesen sei, dass nach ihrem Rückgang am Strand der Landbrücke eine riesige Menge Fische und Muschelngelegen hätten. Sie hätten die jungen Leute dort hingeschickt, und diese hätten alles aufgesammelt. Jetzt wären alle Eimer und Körbe des Hauses voll. Sie erzählten auch von dem neuen Ernergiespar-Turbinensystem des Elektrizitätswerkes, das Oda installiert hatte, und von einer Gruppe Asix, die sich mit viel Elan entschlossen hatte, in einer der Hütten auf einer Insel im Fluss ein Restaurant zu eröffnen. Sie hätten unglaublichen Erfolg damit, obwohl sich niemand die Extravaganz eines Restaurantbesuches mehr als ein- oder zweimal im Monat leisten könnte.
Als Suvaïdar wieder mit Oda allein war, fragte sie ihn: »Wie kommt es, dass ich bei den Leuten plötzlich so beliebt bin? Nachdem ich eine so miese Figur abgegeben habe, hatte ich eigentlich erwartet, dass mich niemand mehr kennt.«
»Wenn du so etwas vermutest, ist es ein Zeichen dafür, dass du zu lange in der Außenwelt gelebt hast, O Hedaï. Nicht du, sondern Kilara hat ihr Gesicht verloren. Ich habe von Roemer Jestak gehört (wer ist Roemer Jestak?, ging es Suvaïdar durch den Kopf, bevor ihr einfiel, dass es der Erwachsenenname von Saïda war), dass ihre Klinge dein Herz nur knapp verfehlt hätte. Da Kilara wusste, dass sie wesentlich stärker war als du, hätte sie dich schlagen müssen, indem sie dich lediglich streift. Eine gut sichtbare oberflächliche Wunde hätte ausgereicht. Vor allem hätte sie nicht die empfindlichsten Partien deines Körpers anvisieren dürfen. Trotzdem bist du es gewesen, die die Blutklingen gefordert hat, obwohl du – wie jeder weiß – mit dem Säbel in der Hand eine Katastrophe bist. Deine Haltung wurde so sehr anerkannt und gewürdigt, wie du es dir gar nicht vorstellen
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