Das Gesetz von Ta-Shima: Roman (German Edition)
Ausbilder das von der Akademie empfohlene System auf die Spitze getrieben: Um Fehler anzudeuten, schlug er mit aller Kraft auf den wunden Punkt. In Suvaïdars Fall waren es meist die Schultern, die vor Anstrengung angespannt waren, weil sie alle Mühe hatte, die Bewegungen korrekt auszuführen.
Kein Wunder also, dass sie am Ende des ersten Monats ein Hämatom auf der rechten Schulter hatte, das die Größe eines Tellers besaß. Es tat so weh, dass sie von nun an den ganzen Tag die Schultermuskulatur anspannte, nicht nur im Fechtsaal.
Bereits nach einigen Tagen in der Akademie bat der Ausbilder eine fortgeschrittene Schülerin, am Kurs teilzunehmen und die beiden erwachsenen Frauen abwechselnd zum Partner zu nehmen. Es handelte sich um ein junges Mädchen, das bereits in der Kindheit der Akademie anvertraut worden war. Alle nannten sie Néko; Suvaïdar fand nie heraus, wie ihr richtiger Name lautete und wie ihr Clan hieß. Der Spitzname passte jedenfalls, denn sie war genauso anmutig wie eines der furchterregenden giftigen Reptilien – und zweifellos auch genauso gefährlich. Obwohl Néko so zierlich gebaut war, dass sie Kilara kaum bis zu den Schultern reichte, gelang es ihr jedes Mal, ihre Gegnerinnen mit einer demütigenden Leichtigkeit aus dem Rennen zu werfen. Suvaïdar hatte versucht, in den Umkleideräumen ein paar Worte mit ihr zu wechseln, hatte stets aber nur einsilbige Antworten und einen leeren Blick aus dunklen Mandelaugen erhalten – ein Blick, der Ausbilder und andere Schüler fixierte, ohne sie je wirklich zu sehen. Zum Leben erwachte Néko nur, wenn sie Tarr sah, mit dem sie sich über das Fechten unterhalten konnte, ein schier unerschöpfliches Thema, bei dem Néko nie der Gesprächsfaden abriss.
»Ziele nicht auf den Körper eines Gegners, der besser ist als du«, riet sie Suvaïdar eines Tages. »Du hast keine Chance, ihn zutreffen, denn ehe du dich versiehst, hat er seine Klinge bereits in deinen Unterarm gestoßen oder sogar in den Brustkorb, wie es dir ja passiert ist. Wenn du über Kreuz parierst, dann versuche, in einer fließenden Bewegung den Arm zu treffen. Wenn du das nicht schaffst, dann ziele auf das Knie. Es reicht bereits eine oberflächliche Verletzung, damit dein Gegner lahmt. Wenn er sich in der tiefen Garde befindet, greife in Augenhöhe an. Sobald der Gegner blinzelt, hast du für einen winzigen Moment die Gelegenheit, seine Wange zu treffen. Das sind Verletzungen, die heftig bluten, selbst wenn sie nur oberflächlich sind. Es dürfte aber reichen, um jemandem die Orientierung zu nehmen, der für gewöhnlich mit den Übungswaffen aus Holz kämpft.«
»Ay.« Mehr sagte Suvaïdar nicht.
Doch insgeheim dachte sie: Lass sie sagen, was sie will. Suvaïdar selbst wusste ganz genau, dass es ihr niemals gelingen würde, einem Gegner in einem echten Duell die Stirn zu bieten, ohne wie ein Fisch auf die Harpune gespießt zu werden, wie Tarr es so schön ausgedrückt hatte.
Auch wenn ihr klar war, dass keiner ihrer Übungspartner die Absicht hegte, sie ernsthaft zu verletzen, passierte es immer wieder, dass Suvaïdar ganz von selbst einen Schritt zurück machte, sobald ein Gegner einen Einschüchterungsversuch startete. Deshalb setzten ihre Kämpfe sich zumeist aus kontinuierlichen Rückzügen zusammen, bis ihr Aktionsradius immer kleiner wurde und sie sich mit dem Rücken an der Wand in irgendeiner Ecke wiederfand.
Du bist unfähig, warf sie sich vor, als sie in der lauen, feuchten Nacht in das Haus zurückkehrte. Vor ihrem geistigen Augen liefen noch einmal die Kämpfe ab, und erst jetzt begriff sie, wann und wie sie hätte angreifen sollen. Doch diese Chancen waren vertan.
Nach zwei Monaten harten Trainings beschloss sie, dass sie genug hatte. Sie würde niemals an das Niveau von Kilara heranreichen, nicht mal an das Niveau eines mittelmäßigen Fechters. Nach der Stunde fragte sie das Narbengesicht:
»Darf ich etwas sagen, Meister?«
»Sag nicht ›Meister‹«, nuschelte der Mann und wies auf das andere Ende des Fechtsaals, wo Tarrs erster Assistent gerade die Fortgeschrittenen trainierte.
»Für mich bist du ein Meister gewesen, Herr, und ich danke dir, dass du versuchst hast, eine Schülerin zu unterrichten, die so unbegabt ist wie ich. Mein Dank geht auch an Meister Huang, der mir die Ehre erwiesen hat, mich hier zwei Monate lang zu empfangen. Ich habe nicht die Absicht, weiterhin an den Stunden teilzunehmen.«
»Aber du kannst nicht einfach aufhören!«, entgegnete er.
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