Das Gesicht der Anderen
“Liegt vermutlich am Alter. Obwohl ich so was Leslie Anne eigentlich nicht zugetraut hätte. Sie dagegen waren in dem Alter ja ein wildes Biest. Sie haben Ihre Mama und Ihren Daddy ganz schön in Atem gehalten.”
“So hat man es mir zumindest immer erzählt.” Tessa stellte ihre Tasse auf den Tisch und setzte sich zu Dante und Hal.
“Ist Mr. G. W.s Frühstück fertig?”, fragte der Butler. “Es ist gleich halb acht.”
“Sobald Miss Tessas Toast fertig ist, kümmere ich mich darum.”
Wie aufs Stichwort sprangen die gerösteten Scheiben heraus. Eustacia legte sie auf einen Teller, bestrich sie leicht mit Butter und stellte sie vor Tessa auf den Tisch. “Sie sollten mehr frühstücken als zwei Scheiben Toast und eine Tasse Kaffee. Kein Wunder, dass Sie zu dünn sind.”
Hal trank seinen Kaffee leer und erhob sich. “Ich finde nicht, dass Sie zu dünn sind, Miss Tessa. Ich finde, Sie sind gerade richtig. Was meinen Sie, Mr. Moran?”
Von Hals direkter Frage durchaus überrumpelt, schrak Dante zusammen und starrte Tessa ein paar Sekunden lang an, bevor er antwortete. “Ich vermute, Miss Westbrook weiß, dass sie eine sehr attraktive Frau ist.”
“Attraktiv, aber zu dünn”, ließ sich die mollige Eustacia vernehmen.
“Diese Frau muss immer das letzte Wort haben.” Und damit nahm Hal ein großes Frühstückstablett aus der untersten Schublade eines massiven Eichenschranks.
Tessa ignorierte Hals und Eustacias Unterhaltung, die nun das Frühstückstablett für G. W. zurechtmachten. G. W. Westbrook nahm sein Frühstück jeden Morgen pünktlich um halb acht in seinem Zimmer ein. Auch die Zusammenstellung änderte sich selten. Es gab Eier mit Speck, Maisschrot und Biskuits, dick mit Butter und einer von Eustacias selbst gemachten Marmeladen oder Gelees bestrichen. Trotz aller Warnungen vonseiten seiner Ärzte und Tessas Appellen an seine Vernunft änderte G. W. seine Essgewohnheiten nicht.
“Wenn ich sterbe”, sagte er immer wieder, “dann sterbe ich wenigstens glücklich, mit einem vollen Bauch.”
Tessa trank einen Schluck von ihrem schwarzen Kaffee und wartete darauf, dass Dante etwas sagte. Er war merkwürdig ruhig. Sie spürte, dass sich etwas zwischen ihnen beiden verändert hatte, seit sie gestern Abend Leslie Anne ins Bett gebracht hatten.
Sei doch nicht albern, ermahnte sie sich. Zwischen euch beiden ist überhaupt nichts – bis auf eine gegenseitige Anziehung. Wie sollte sich das binnen weniger Stunden verändert haben?
“Konnten Sie ein wenig schlafen?”, fragte sie.
“Ich habe in der Bibliothek ein Nickerchen gemacht.”
“Hmm.”
“Sobald Ihr Vater nach unten kommt, werde ich den Auftrag abschließen. Dann treffe ich meine Kollegen von Dundee im Motel, und wir fliegen zurück nach Atlanta.”
Nein, bitte bleiben Sie hier, wollte sie sagen, tat es aber nicht. “Ich habe noch eine Bitte. Könnten Sie Ihre Abreise ein wenig hinauszögern?”
Fragend und mit leicht gerunzelter Stirn sah Dante sie an.
Tessa war es nicht gewohnt, andere Leute um einen Gefallen zu bitten. Sie hatte in den letzten Jahren mühsam lernen müssen, wieder stark und selbstständig zu werden; ihr Ziel war es gewesen, endlich wieder allein zurechtzukommen. Nachdem man sie vergewaltigt und halb tot geschlagen hatte, war sie in der Obhut unzähliger Ärzte, Krankenschwestern, Therapeuten und Psychologen gewesen. Und vollkommen abhängig von ihrer Familie. Nur ihr Vater und ihre Tante Sharon hatten die ganze Wahrheit gekannt. Alle anderen hatten die Lüge geschluckt, die ihr Vater erfunden hatte – dass sie einen schrecklichen Autounfall überlebt hatte.
Immer wenn sie mit ihrem Vater über ihre Vergangenheit sprach oder ihn fragte, wie er es geschafft hatte, dass die Wahrheit nie ans Licht kam, sagte er, sie bräuchte sich mit diesen Details nicht zu belasten. Sie vermutete, dass G. W. sein Geld und seinen Einfluss benutzt hatte, um alle zu manipulieren. Es wunderte sie immer wieder, welche Macht ihr Vater besaß, nicht nur in Mississippi, sondern in den Südstaaten überhaupt.
Doch egal, was er getan hatte, er hatte es für sie getan. Und für ihre Mutter. Und für Leslie Anne. Um sie alle zu beschützen. Er hatte die Geschichte umgeschrieben, damit niemand, vor allem nicht ihre Mutter, jemals die Wahrheit erführe. Damit hatte er seiner Frau ein letztes Geschenk vor ihrem Tod gemacht.
Niemals waren diese Lügen eine Bedrohung für Leslie Anne gewesen. Doch plötzlich war aus ihrer sicheren,
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