Das Gesicht der Anderen
Abgeschlossen.
Leslie Anne schloss nie ihre Tür ab.
Lucie stellte ihren Koffer ab, nahm ihre Tasche von der Schulter und öffnete ein Reißverschlussfach auf der Vorderseite der Tasche. Der entnahm sie ein kleines Lederetui, aus dem sie ein glänzendes Werkzeug holte, das sie in das Türschloss schob. Nachdem sie das Werkzeug und das Etui wieder verstaut hatte, drehte sie den Türknauf und, voilà, die Tür ging auf.
Tessa zog bewundernd die Brauen hoch und betrat dann das Zimmer ihrer Tochter. Sie war auf eine Auseinandersetzung vorbereitet. Hinter ihr folgte Lucie, die aber auf der Türschwelle stehen blieb. Leslie Anne lag quer auf ihrem zerwühlten Bett. Sie trug ein neonpinkfarbenes Stricksweatshirt, und ihre Augen waren rot und verquollen vom vielen Weinen.
Mein armes Baby.
Tessa sehnte sich danach, ihre Tochter in den Arm zu nehmen.
Offensichtlich spürte Leslie Anne in diesem Moment, dass sie nicht mehr allein war. Sie schaute die beiden Frauen an und fragte: “Wie seid ihr hier reingekommen?”
Lucie ging zu der Musikanlage und schaltete den ohrenbetäubenden Hard Rock aus. “Ich habe das Schloss geknackt.”
Leslie Anne fuhr herum und funkelte Lucie böse an. “Was machen denn Sie hier? Wo ist Dante?”
“Jetzt werd mal nicht unverschämt”, wies Tessa ihre Tochter zurecht. “Lucie ist hier, um …”
Leslie Anne sprang vom Bett und baute sich vor ihrer Mutter auf. “Wo ist Dante?”
“Mr. Moran wird die Untersuchung leiten.”
Tessa spürte, wie aufgewühlt ihre Tochter war, und hoffte, es würde ihr gelingen, sie zu beruhigen. “Lucie ist hier, um mit uns zusammen …”
“Ich will Dante!” Leslie Anne stemmte trotzig die Hände in die Hüfte.
“Mr. Moran hat sich für die Feldarbeit entschieden”, versuchte Tessa ihr zu erklären.
“Heißt das, er kommt nicht mehr zurück?”
“Es heißt, dass wir ihn eine Weile nicht sehen werden.”
“Was hast du getan?”, schrie Leslie Anne. “Oder war es Großvater? Warum ist Dante weg? Ich dachte, du magst ihn. Ich dachte, du verstehst, dass ich ihn brauche!”
“Leslie Anne, Schätzchen. Bitte …”
“Lass mich in Ruhe!” Leslie Anne stürmte aus dem Schlafzimmer ins Bad und schloss sich ein.
Tessa sah Lucie an, die sagte: “Ich kann auch dieses Schloss knacken, aber wozu? Sie ist ganz offensichtlich nicht in der Stimmung, uns überhaupt zuzuhören.”
“Was ist denn hier los?”, fragte Sharon, die mit Leslie Annes Abendessen in der Tür stand.
“Du kannst das Tablett abstellen”, sagte Tessa. “Tante Sharon, würdest du einen Moment hierbleiben, während Lucie das Schloss vom Bad knackt. Das dauert nicht lange. Und wenn Leslie Anne rauskommt, erklär ihr bitte, dass ich auf dem Weg zu Dante Moran bin, um mit ihm zu sprechen.”
“Finden Sie es richtig, ihrem Willem einfach so nachzugeben?”, fragte Lucie.
“Worum geht's?” Sharon sah erst Lucie, dann Tessa an.
“Meine Tochter steht kurz vor einem Nervenzusammenbruch”, sagte Tessa und blickte von Lucie zu Sharon und wieder zu Lucie. “Tad Sizemore hat gesagt, er habe den Eindruck, Leslie Anne spiele mit dem Gedanken, sich umzubringen. Ich glaube zwar nicht, dass das stimmt, aber wenn es Leslie Anne hilft, mit Dante zu sprechen, dann will ich dafür sorgen, dass sie das tun kann.”
“Du solltest nichts auf Tads Geschwätz geben. Er wird immer gern dramatisch, manchmal sogar melodramatisch”, sagte Sharon.
“Das ist mir klar, aber …” Tessa seufzte schwer. “Ich glaube, Leslie Anne hat sich in eine bestimmte Vorstellung von Mr. Moran verrannt. Sie betrachtet ihn als ihren Beschützer, als eine Art Vaterfigur. Wenn es ihr hilft, mit ihm zu sprechen, dann werde ich dafür sorgen, dass sie es tun kann. Ich werde versuchen, Dante begreiflich zu machen, dass er hier gebraucht wird.”
“Wir kümmern uns schon um Leslie Anne. Wenn Sie möchten, werde ich als Bodyguard Ihrer Tochter fungieren, damit Sie sich keine Sorgen machen müssen. Sprechen Sie in der Zeit mit Dante”, ermunterte Lucie sie. “Er wohnt im Fairport Inn, Zimmer sieben.”
13. KAPITEL
A m Abend um halb zehn würde Dante per Hubschrauber zum
John H. Hooks Jr. Airport
in Rayville, Richland Parish, fliegen. Dort würde er seinen Mietwagen in Empfang nehmen und ins Ramada Inn fahren, wo er bereits ein Zimmer reserviert hatte. Gleich am nächsten Morgen wollte er mit der Recherche beginnen. Als erster Stopp war das Büro des Sheriffs vorgesehen. Der jetzige Sheriff Earl Summers war vor
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