Das Gesicht der Anderen
Meinung kund und überraschte damit jeden. “Ich habe heute mit ihr gesprochen, und sie benahm sich äußerst seltsam. Ich hatte den Eindruck, sie wollte sich etwas antun.”
“Was?!”, riefen Sharon, Tessa und G. W. wie aus einem Mund.
“Tad, wovon redest du?”, fragte Olivia.
Tad zuckte die Schultern. “Vielleicht ist es gar nicht der Rede wert, aber ich glaube, ihr solltet ihr diese Geschichte mit der Mutprobe nicht abnehmen. Da ist irgendwas anderes im Busch.”
“Willst du damit sagen, dass Leslie Anne sich mit Selbstmordgedanken trägt?” Charlie sah Tad nachdenklich an.
“Ich will überhaupt nichts sagen”, erwiderte Tad. “Ich habe nur gemeint, mit dem Kind stimmt was nicht.”
Angst stieg in Tessa auf, gepaart mit Schmerz, emotionalem wie körperlichem. Ganz sicher trug sich Leslie Anne nicht mit Selbstmordgedanken. Nicht ihre intelligente, nüchtern denkende Tochter.
Andererseits hatte dieses intelligente und nüchtern denkende Mädchen gerade erst erfahren, dass ihre Mutter und ihr Großvater sie ihr ganzes Leben lang belogen hatten. Und sie hatte sich mit der Tatsache abzufinden, dass ihre Mutter vergewaltigt worden und sie selbst das Ergebnis dieser schrecklichen Tat war. Dieser Schock konnte selbst den stabilsten Menschen aus der Fassung bringen.
Vergiss nicht, dass du damals auch an Selbstmord gedacht hast und sterben wolltest
, erinnerte sich Tessa.
Aber sie hatte zu keiner Zeit das Gefühl gehabt, Leslie Anne würde auch nur im Entferntesten an Selbstmord denken. Sie kannte ihr Kind schließlich besser als jeder andere. Ihr wäre es sicher aufgefallen, wenn sie in einem so labilen Zustand wäre.
In diesem Moment erschien Hal Carpenter in der Tür des Esszimmers, räusperte sich und sagte: “Entschuldigen Sie, wenn ich störe, Miss Tessa. Aber hier ist jemand von Dundee für Sie. Sie sagt, es wäre wichtig.”
“
Sie
?”, fragte Sharon.
“Ja, Ma'am. Ms. Lucie Evans.” Er machte eine Pause, dann fuhr er fort: “Und Eustacia lässt fragen, ob sie Miss Leslie Anne ihr Dinner in ihrem Zimmer servieren soll?”
“Geh du und sprich mit Ms. Evans”, sagte Sharon zu Tessa. Dann wandte sie sich Hal zu. “Bitte sagen Sie Eustacia, sie soll das Tablett mit dem Essen fertig machen. Ich werde es nach oben zu Leslie Anne bringen.”
Tessa und Sharon erhoben sich praktisch gleichzeitig. Sharon hielt es nicht für nötig, sich zu entschuldigen, sondern verließ gleich hinter Hal das Esszimmer.
“Wenn ihr mich bitte entschuldigen würdet”, sagte Tessa. “Ms. Evans ist vermutlich hier, um mir den neuesten Stand der Dinge zu berichten.”
“Soll ich mitkommen?”, fragte G. W.
“Nein, Daddy. Bitte bleib hier und kümmere dich um unsere Gäste. Es wird sicher nicht allzu lange dauern.”
Tessa fand Lucie im Foyer. Neben ihr stand ein kleiner Koffer auf dem Marmorboden.
Als sie Tessa sah, sagte Lucie sofort: “Dante schickt mich.”
“Hat er Ihnen alles erzählt?”
Ein seltsamer Ausdruck huschte über Lucies Miene. “Ja. Alles.”
Tessa nahm den Koffer in Augenschein. “Sie werden also hierbleiben?”
Lucie nickte.
“Wir müssen uns eine Begründung dafür ausdenken, warum Sie hier in Fairport bleiben und warum wir jetzt, wo Leslie Anne wieder da ist, immer noch eine Dundee-Agentin beschäftigen.”
“Vielleicht wäre es das Beste zu sagen, Sie hätten sich entschieden, eine Art Bodyguard für Leslie Anne zu engagieren, weil Sie sich nicht sicher sein können, ob Leslie Anne nicht eine weitere Dummheit plant. Natürlich müssen Sie diese Nummer erst Ihrer Tochter erzählen, damit es auch wirklich durchgeht.”
Tessa seufzte. “Das ist vermutlich die geschickteste Lösung. Also sollten wir es Leslie Anne auch sofort sagen. Ich hoffe nur, dass sie mitspielt.”
“Von mir aus können wir warten, bis das Abendessen beendet ist.”
“Leslie Anne ist sowieso oben auf ihrem Zimmer. Sie hat nicht mit uns gegessen. Wir könnten also gleich zu ihr gehen und die Sache besprechen.” Tessa sah noch einmal den Koffer an. “Nehmen Sie Ihre Sachen am besten gleich mit nach oben. Nachdem wir mit Leslie Anne gesprochen haben, zeige ich Ihnen Ihr Zimmer.”
Lucie folgte Tessa zu Leslie Annes Suite. Laute Rockmusik drang bis auf den Flur und ließ die Grundmauern des alten Hauses erbeben. Tessa klopfte an die geschlossene Tür. Keine Reaktion. Sie klopfte noch einmal, lauter und fester diesmal. Immer noch keine Reaktion. Sie versuchte, die Tür zu öffnen.
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