Das Gesicht des Drachen
Wasser tief ergriffen. Dann warf sie einen Blick nach unten, und die heitere Gelassenheit verflog. Sie konnte bereits den verschwommenen Umriss der Fuzhou Dragon erkennen.
Der Anblick war bestürzender, als Amelia erwartet hatte. Das auf der Seite liegende Schiff, die klaffende schwarze Explosionswunde im Rumpf, der Rost, die abblätternde Farbe, die Muschelablagerungen auf den Stahlplatten. Dunkel, schroff und Unheil verheißend - und im Innern die Leichen so vieler unschuldiger Menschen.
Ein Sarg, dachte sie, und ihr Herz zog sich zusammen. Es ist ein riesiger metallener Sarg.
Ihre Ohren schmerzten; sie drückte den weichen Plastikteil der Maske über der Nase zusammen und stellte den Druckausgleich her. Je näher sie der Dragon kamen, desto deutlicher hörten sie die Geräusche - ein Knirschen und Ächzen, hervorgerufen durch die dicke Metallwandung des Schiffs, die über die Felsen scharrte.
Ich hasse diesen Lärm. Schrecklich, grauenhaft. Es klingt, als würde eine gewaltige Kreatur im Sterben liegen.
Sachs' Begleiter waren gewissenhaft. Immer wieder hielten sie kurz inne und erkundigten sich nach Amelias Befinden. Erst nach einem Okay-Zeichen tauchten sie weiter.
Als sie den Grund erreichte, hob sie den Kopf und stellte fest, dass die Oberfläche gar nicht so weit weg schien wie befürchtet, wenngleich sie wusste, dass das Wasser wie eine Linse wirkte und alles vergrößerte. Sie warf einen Blick auf den Tiefenmesser. Siebenundzwanzig Meter. Ein neunstöckiges Gebäude. Dann die Druckanzeige. Herrje, schon bei diesem mühelosen Abstieg hatte sie hundertfünfzig Pfund Luft verbraucht.
Mittels der Tarierweste brachte Sachs sich in eine gleichmäßige Schwebeposition. Sie deutete auf das Loch im Rumpf, und alle drei schwammen darauf zu. Trotz der oben so stürmischen See herrschte hier unten nur eine sanfte Strömung, und sie kamen gut voran.
Am Explosionsort kratzte Sachs mit ihrem abgerundeten Messer einige Rückstände von dem nach außen gebogenen Metall, strich das schwarze, wie Ruß wirkende Material in einer Plastiktüte ab und verstaute diese in dem Netzbeutel.
Sie schaute zu den dunklen Fenstern der Brücke in etwa zwölf Metern Entfernung. Okay, Rhyme, los geht's. Sie schwammen weiter.
Der Druckmesser zeigte völlig ungerührt den aktuellen Stand an: Zweitausenddreihundertfünfzig Pfund.
Bei fünfhundert würden sie mit dem Aufstieg beginnen.
Da das Schiff auf der Seite lag, öffnete die schwere metallene Brückentür sich mittlerweile nach oben. Den Beamten der Küstenwache gelang es mit einiger Mühe, sie aufzustemmen, sodass Sachs nach unten in den Befehlsstand schwimmen konnte. Dann ließen die beiden die Tür zufallen. Sie schloss sich mit einem markerschütternden Knall, und Sachs begriff, dass sie nun im Innern des Schiffs gefangen war. Ohne Hilfe würde sie es vermutlich nicht schaffen, auf diesem Weg wieder hinauszugelangen.
Denk gar nicht erst darüber nach, ermahnte sie sich und schaltete den Scheinwerfer an ihrer Haube ein. Der Lichtstrahl war ihr wenigstens ein schwacher Trost. Sie wandte sich zur Seite und schwamm in den dunklen Korridor, der zu den Kabinen führte.
Am Rand ihres Sichtfelds bewegte sich etwas. Aber was? Ein Fisch, ein Aal, ein Krake?
Das gefällt mir nicht, Rhyme.
Aber dann fiel ihr der Geist ein, der nach den Changs suchte, und das kleine Mädchen, Po-Yee, das »Geliebte Kind«.
Denk daran, nicht an die Dunkelheit oder die Enge. Tu es für sie, für Po-Yee.
Amelia Sachs schwamm weiter.
Sie war in der Hölle.
Es ließ sich mit keinem anderen Wort beschreiben.
Der schwarze Gang war voller schmutziger Trümmer und Abfälle, voller Stofffetzen, Papier, Speisereste, Fische mit stechend gelben Augen. Und über ihr schimmerte etwas wie eine Eisdecke: die dünne Luftschicht, die sich hier drinnen gefangen hatte. Die Geräusche waren entsetzlich: Scharren, Ächzen, Stöhnen. Lautes Kreischen wie menschliche Todesschreie, Pfeifen und Knacken. Das Hallen von Metall auf Metall.
Ein großer, grauer Fisch schoss geschmeidig an ihr vorbei. Sie keuchte unwillkürlich, schaute ihm hinterher und blickte genau in zwei trübe menschliche Augen in einem weißen, leblosen Gesicht.
Trotz des Lungenautomaten schrie Sachs auf und zuckte zurück. Es war die Leiche eines Mannes, barfuß und mit erhobenen Händen, als wolle er sich ergeben. Er trieb schwerelos im Raum, seine Beine waren in einer Laufbewegung erstarrt, und der schwache Sog im Gefolge des großen Fischs ließ ihn
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