Das Gesicht des Teufels
Nacht doch längst vorbei.
Ruckartig setzte sie sich auf, sofort schlug ihr ein eisiger Hauch ins Gesicht. Es war wirklich bitterkalt. Marie biss die Zähne zusammen. Das ist der erste Herbstfrost, dachte sie besorgt. Arndt muss sich beeilen, sonst wachen wir eines Morgens alle im Himmel auf. Na ja, wenigstens braucht er sich jetzt keine Sorgen mehr um das Bauholz machen.
Danke, lieber Gott.
Sie linste an den freien Ständerbalken vorbei zum Himmel und erblickte einen Stern. Ein guter Stern, freute sie sich. Wie schön hell er ist. Doch was war nun mit Hanna?Noch nie hatte sie die Nacht woanders verbracht als in dieser Hütte.
Arndt, du hast mich angelogen, rief Marie ihrem Bruder im Stillen zornig zu. Böse starrte sie in die Dunkelheit, die von Arndts gleichmäßigem Schnarchen belebt wurde. Du hast gesagt, Hanna würde, wenn sie nicht bis zum Abend zurück ist, mit dem Müller und seinen Freunden Polterabend feiern. Aber ich weiß doch, dass sie ihn nicht mag. Nie würde sie den heiraten, diesen Klotz. Er heißt doch nicht Ulrich.
Sie schaute zu Babur. Noch immer schlief auch er tief, sein Atem ging gleichmäßig. Marie kam es vor, als ließe er sie mit seinem Schlaf im Stich. Also beugte sie sich vor und kraulte ihm den Hals. Sofort war Babur wach und hob seinen Kopf. Fragend sah er sie an.
«Hanna ist noch nicht da», flüsterte sie. «Ich hab Angst um sie.» Babur streckte die Schnauze in die Luft, witterte. Mit leisem Fiepen kam er auf die Beine, streckte sich und gähnte ausgiebig. «Was sollen wir tun? Es ist noch dunkel. Und entsetzlich kalt dazu.»
Das schaurige Heulen eines Waldkauzes ertönte. Marie zuckte zusammen, ihr Herzschlag beschleunigte sich. Nicht dass sie sich fürchtete, aber warum heulte just in diesem Augenblick ein Kauz? Was hatte das zu bedeuten?
Weint Hanna vielleicht? Bin ich deswegen aufgewacht?
Sie lauschte und hoffte, der Kauz würde noch einmal rufen, aber es blieb still. Schließlich ertönte Flügelschlagen. Babur spitzte die Ohren, hielt die Luft an. Auch Marie hörte den ängstlichen Pfiff einer Maus. Dann war es bis auf Arndts Schnarchen wieder still.
Babur winselte.
«Und ich hab schon wieder Hunger», flüsterte Marie gedankenverloren.«Sollen wir Ulrich in Detwang besuchen? Bei ihm bekommen wir bestimmt etwas zu essen.» Doch schon schüttelte sie den Kopf. «Nein, wir müssen Hanna helfen, hörst du? Wir kaufen uns was zu essen, in Rothenburg.»
Wieder erklang Baburs Winseln.
Sie zog ihr Nachthemd über den Kopf und huschte nackt zum Geräteschuppen. Dort war die Viehtränke, die ihnen allen als Waschplatz diente. Zähneklappernd und von einem Bein aufs andere hüpfend, schließlich war sie barfuß, zerschlug sie die dünne Eisdecke. Ohne zu zögern, spritzte sie sich das eisige Wasser gegen den Körper, seifte sich kurz ein und wusch den Schaum mit einem halb gefrorenen Lappen wieder ab.
Und jetzt die Füße! Eins … sie hob das Bein und tunkte den Fuß ins Wasser … zwei. Geschafft. Denn wenn du frierst, wasch dich kalt. Fast jeden Morgen hörte Marie diesen Satz aus Hannas Mund. Und, ist mir jetzt warm?, fragte sie sich und schüttelte ihre nassen Hände über Babur aus.
Fast.
Sie rannte zurück in die Hütte, wo Arndt jetzt schnarchte, als würde er einen Baum zersägen.
Erst die Strümpfe, murmelte Marie und rollte die dicken Wollbeinlinge bis zu den Schenkeln hoch. Dann band sie sie fest. Jetzt das Unterkleid und darüber den Winterkittel. Alles lag griffbereit neben ihr, sogar die Strickmütze. Aber für die war es noch längst nicht kalt genug. Marie war abgehärtet.
Babur wedelte aufgeregt, als sie ihre Lederschuhe zuband, für die Hanna ein halbes Jahr lang gespart hatte. Mit ihnen und den dicken Beinlingen war Marie nun gut gegen die Kälte gefeit.
Wenn ich jetzt schreiben könnte, überlegte sie, würdeich Arndt eine Nachricht hinterlassen, wohin Babur und ich gegangen sind. Aber bald kann ich das ja. Und dann bin von allen Völzens die Klügste.
Erleichtert stellte sie fest, dass sich der Himmel zu röten begann, als sie die Neusitzer Streuobstwiesen erreichten. Ein herrlicher Herbsttag kündigte sich an, doch dafür hatte Marie jetzt keinen Sinn, ihre Gedanken kreisten um Hanna und den hässlichen Müller. Vorhin hatte sie noch schnell an der alten Eiche ihre Geheimstelle aufgesucht und Geld mitgenommen – Geld, das sie vor einem Jahr auf dem Rothenburger Martinimarkt gefunden hatte. Irgendjemand hatte dort drei Münzen verloren und
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