Das Geständnis der Amme
sämtliche Gefühle erschöpft.
Schließlich stand sie auf und trat zu ihm. Kurz war er sich nicht sicher, was sie wollte, dann – als sie ihre Hand auf seinen Kopf legte – begriff er. So hatte sie ihn auch in jener Nacht berührt, nachdem er sie genommen hatte, hatte ihn zwar nicht gestreichelt, nicht liebkost, aber ihm zu verstehen gegeben, dass sie ihn nicht dafür hasste. Sein Leib reagierte prompt, wenngleich ihn die Begierde nicht so verboten, so unschicklich, so peinvoll deuchte wiedamals, darum auch weniger hektisch, weniger schmerzhaft ausfiel. Er fühlte zwar, wie seine Ohren zu glühen begannen, wie er leicht erschauderte unter ihrer Hand – doch anders als beim ersten Mal hatte er die Hoffnung, dass es sich irgendwann selbstverständlich, ja alltäglich anfühlen könnte, sie zur Frau zu haben. Er zog sie an sich, sie leistete keinen Widerstand. Erst als sie unter ihm lag, gewahrte er, wie sie kaum merklich erstarrte. Ihre Augen schlossen sich jedoch nicht, sondern blieben auf ihn gerichtet. Warm schien ihm ihr Blick – und ebenso gleichgültig, als wäre das, was mit ihrem Körper geschah, ihr zwar nicht unangenehm, ginge sie jedoch auch nicht wirklich etwas an. Er neigte sich vor, küsste sie vorsichtig auf die Lippen. Ebenso wohlige wie angespannte Erwartung breitete sich in seinem Leib aus. Er gab ihr nach, wenn auch nicht ohne Zweifel. Denn plötzlich war er sich gewiss, dass – war das Begehren seines Körpers auch gestillt – jenes weiterbrennen würde: der Wunsch, sie ganz zu besitzen und die Starrheit aufzubrechen, die sie noch immer gefangen hielt.
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XXII. Kapitel
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Das Jahr nahm seinen Lauf, unaufgeregt und mit einem beständigen Gleichmaß der Tage. Judith und Balduin ritten aus, manchmal auch zur Jagd, nahmen Bäder, versuchten Lothar in der Hofhaltung zu unterstützen. Vor allem Judith tat das, wenngleich sie sich nie als Stellvertreterin der eigentlichen Königin aufdrängte, sondern meist hinter Lothars Rücken die Absprachen mit dem
Mansionarius
traf und so dafür sorgte, dass die Halle besser gereinigt war und die Speisen, die aufgetragen wurden, dem Gaumen mehr zusagten. Kündigten sich freilich Gäste an, die davon am meisten profitierten – Adelige aus Lothars Reich oder Gesandte seiner königlichen Onkel und Brüder –, dann war sie nicht zugegen, sondern hielt sich mit Balduin verborgen, um nicht aufzufallen. Gewiss musste ihr Vater mittlerweile herausgefunden haben, wo das ungehörige Paar Zuflucht gefunden hatte, doch offenbar entschied er sich, diese Schmach schlichtweg zu ignorieren.
Der Frühling und der Sommer des Jahres 862 blieben Judith als eine Zeit des Friedens in Erinnerung, nicht vollkommen, nicht für immer, aber darin tauglich, Balduin ohne die Beschwernisse von Flucht und Reise näherzukommen. Mit Worten war es einfach – sie erzählten einander viel, wenngleich meist nicht von den dunklen Ereignissen ihres Lebens, sondern von der Kindheit und den Menschen, die ihnen damals nahegestanden hatten. Die Vertraulichkeit wuchs, wenn auch nicht in den Nächten, da sie beisammenlagen. Tagsüber konnten sie ohne Vorbehalt reden – jedoch nie darüber, dass da etwas Unerfülltes zwischen ihnenstand. Mit keinem Wort ward verraten, dass sie sich ihm zwar hingab, aber keine echte Anteilnahme zeigte, dass ihm dies zu wenig war, auch wenn er nie mehr einforderte, und dass sie beide davon wussten. Solcherart verschwiegen blieb das Unbehagen, das sich darüber einstellte; es blieb zu schwach, um die unbeschwerten Tage wirklich anzukratzen.
Judith und Balduin lernten Trier besser kennen, eine zwar wohlhabende Stadt mit langer Geschichte, aber kein lebhaftes Handelszentrum. Hin und wieder kamen friesische Kaufleute, ansonsten blieben die Bewohner meist unter sich. Anders als in jenen Städten, die von Normannen angegriffen worden waren, machte sich hier keiner die Mühe, die alten römischen Mauern neu zu errichten. Manches Gebäude, das sich über die Jahrhunderte in einen Trümmerhügel verwandelt hatte, wurde von Unkraut und Strauchwerk überwuchert anstatt zu neuem Leben zu erwachen.
An Lothars Seite besuchten sie auch andere königliche Residenzen: Metz, Tusey und schließlich Köln, wo umfangreiche Bauarbeiten im Gange waren. Auf den Mauern der alten Kapelle wurde eine dreischiffige romanische Basilika errichtet, mit einem Chor im Westen, einem im Osten und einem langen Atrium mit überdachten Wandelgängen. Nicht mehr lange, so erklärte ihnen Lothar, und
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