Das Geständnis der Amme
Licht. Es floss durch die geöffnete Tür, und er sah, wie Johanna in dem rötlichen Schein die Augen zusammenkniff. Ihr Haar hing dünn und grau über die Schultern, seit Jahren hatte er es nicht mehr gesehen, stets war es unter einer Haube verborgen gewesen.
Balduin fuhr herum. Das Licht wurde von Schritten und Stimmen begleitet.
»Was …«, setzte er an.
Der Graf kam ihm entgegen, nicht mehr mit dem frischen, aufrechten Gang eines jungen Mannes, sondern wie Johanna gebeugt von der Last der Jahre. Sein Gesicht kam Balduin faltiger, bleicher vor als sonst, aber vielleicht war das nur, weil er mitten in der Nacht geweckt worden war.
»Eben kam ein Bote an!«, sprach er heiser. »Von Prinz Ludwig. Er schickt nach dir.«
Auch wenn jene Nachricht von keiner Bedrohung kündete, fuhr Balduin zusammen. Er wusste, dass das eine mit dem anderen nichts zu tun hatte, doch der Streit, den er eben mit Johanna ausgefochten hatte, lähmte sein Gemüt und ließ alles, was von Ludwigs Boten zu erwarten stand, schon jetzt als unheilvoll erscheinen.
Mitten in der Nacht war er vom Königssohn benachrichtigt worden, und mitten in der Nacht traf er auf ihn – in einem kleinen Ort auf neustrischem Gebiet, nicht weit von der bretonischen Grenze. Der Wind wehte so scharf, dass er Balduin fast den Helm vom Kopf riss und ihm Tränen in die Augen trieb. Er glaubte, den salzigen Geschmack von der schroffen Küste im Mund zu schmecken, gleichwohl sie noch einen halben Tagesmarsch von ihnen entfernt lag. Schwer fiel es Balduin, sein Pferd ruhig zu halten, dessen wilde Mähne vom Sturm flach nach hinten gepresst wurde und das nervös wieherte. Ludwig schien es besser zu gelingen, sein Tier zu beherrschen. Er saß aufrecht, starrte in Richtung Bretagne und hielt den Kopf erhoben, als wehte nur ein schwaches Lüftchen.
Als Balduin endlich an seiner Seite war, schnaufte er vor Anstrengung.
»Warum hast du mich hierher gebeten?«, schrie er gegen den Wind an. Immerhin vertrieb jener die Schwärze der Nacht. Deren dunkles Tuch schien zu flattern, an den Rändern hochgerissen zu werden, und hinein drang Licht, das in der Ferne dottergelb war und hier bei ihnen ein fahles Glimmen erzeugte.
Balduin wandte den Kopf und versuchte Ludwigs Miene zu deuten. Was er sah, überraschte ihn. Den ganzen Ritt über, den er zügig und fast ohne Pausen zurückgelegt hatte, war er überzeugt gewesen, dass neue Gefahr von den Normannen drohte und Ludwig ihn darum an seiner Seite wissen wollte. Gleichwohl die Bretagne – gemessen an den stark heimgesuchten Gebieten um Seine und Loire – bislang weitgehend verschont geblieben war, schien es durchaus möglich, dass sich die Begehrlichkeit der nordischen Krieger nun auch auf diesen Küstenabschnitt richtete und sich der dortige Herrscher mit dem fränkischen König verbündete, um der Plage Herr zu werden.
Doch in Ludwigs Augen stand weder Sorge noch Gleichgültigkeit ob bevorstehender Schlachten, sondern sie glänzten, als erlebte er eben den größten Triumph. So begeistert blickte er, als läge vor ihm nicht einfach nur eine Region, die manchmal Feinde, manchmal Freunde des Frankenreichs barg, sondern das Gelobte Land.
Balduin war verwirrt. Nie hatte er erlebt, dass Ludwig etwas tat oder entschied, was nicht von einem leisen Missmut durchsetzt war, von der Ahnung, dass er – gleich, was er leistete – doch immer der Mann mit dem Stottern, dem abstoßenden Gesicht und der mickrigen Figur bleiben würde. Heute aber glichen seine Haltung und sein Gesichtsausdruck erstmals denen eines Königssohns.
»Warum hast du mich hierher gebeten?«, schrie Balduin erneut gegen den Wind an.
Jetzt erst antwortete Ludwig, jedoch mit einer Gegenfrage: »Was weißt du über die Bretagne?«
Balduin zuckte die Schultern. Der Wind vermochte die Müdigkeit um seine Augen zu vertreiben, nicht aber die Erschöpfung, die nun alle seine Glieder erfasste. Wenn er sich mit Ludwig über Politik unterhalten musste, hätte er es lieber hinter schützenden Mauern getan, anstatt gegen diesen pfeifenden Sturm anzukämpfen.
Er sammelte seine Gedanken im Kopf, sprach sie aber nicht aus. Er wusste, dass um die Bretagne mehrfach heiß gekämpft worden war. Dass König Karl sie gerne seinem Reich einverleibt hätte, aber sich bei jedem Versuch ein bretonischer Herrscher als stärker erwies. Zuerst ein gewisser Nominoe, der sich von Priestern zum König salben ließ. Dann Erispoe, der nach dessen plötzlichem Tod die Macht ergriffen
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