Das Gewölbe des Himmels 1: Der Vergessene (German Edition)
fertig und richtete sich auf. Gemeinsam starrten sie nach Westen. »Ich wollte dich nicht beleidigen.«
»Ganz so leicht ist es nicht, mich zu beleidigen … oder mein Interesse zu wecken.« Sie verzog den Mund zu diesem angedeuteten Lächeln. Dennoch erhellte es ihr Gesicht, und sie lächelte zwar nicht oft, aber wenn – dann war es, als trüge sie dieses Lächeln immer.
Tahn riss sich zusammen und besann sich auf das, was ihm außer seinen Gefühlen für die Fern noch auf dem Herzen lag. »Sag mir, was die von mir wollen.«
»Wenn Vendanji findet, dass du das wissen solltest, wird er es dir sagen. Ich verstehe deinen Wunsch, aber ich werde das Vertrauen nicht enttäuschen, das der Sheson in mich setzt. Bitte mich nicht darum.«
In der Ferne flog ein dunkler Vogel im Licht der untergehenden Sonne in ihre Richtung.
»Er bittet mich, ihm zu vertrauen, aber er gibt mir gar keinen Anlass dazu. Wenn mein Vater noch leben würde, hätte er auf Antworten bestanden, ehe er sein Einverständnis zu dieser Reise gegeben hätte.«
Mira neigte den Kopf in den Nacken und blickte höher in den Himmel. »Wirklich vertrauen kann man nur, wenn man keine Gewissheit hat.«
Tahn dachte über ihre Worte nach und versuchte, sie zu widerlegen. Schließlich gab er es auf und wandte sich der nächsten drängenden Frage zu. »Ist es wahr, dass eure Lebensspanne nur kurz ist?« Er brach ab und wünschte, er hätte seine Frage anders formuliert. Also versuchte er es noch einmal. »Ich meine, in den Geschichten heißt es, die Fern seien außergewöhnlich schnell, bezahlten dafür aber mit einem frühen Tod.«
Diesmal verzog sie gleich beide Mundwinkel zu diesem leichten Lächeln. »Das klingt wie von einem Autor verfasst. Aber ja, im Wesentlichen stimmt es. Mein Volk ist an einen sehr alten Eid gebunden. Frage nicht danach, denn ich darf dir nichts darüber sagen. Dafür, dass wir unseren Eid erfüllen, müssen wir niemals Rechenschaft ablegen. Ich glaube, ihr nennt das Erreichen dieses Alters den Wandel. Unsere natürliche Lebensspanne endet zusammen mit unserem achtzehnten Umlauf.«
Der Vogel, den sie beobachteten, wurde vor dem dunkelroten Himmel immer größer.
»Dann wirst du …«
»Mir bleiben noch ein paar Jahre. Aber ja, das ist der Segen des Bundes, den wir eingegangen sind.«
Tahn staunte. Sein Leben lang hatte er es kaum erwarten können, den Wandel zu erreichen, damit man ihn endlich ernst nahm, damit seine Entscheidungen etwas zählten , damit er ein Mädchen finden konnte … »Vielleicht liegt das daran, dass ich aus dem Helligtal komme, aber für mich klingt das nicht nach einem guten Tausch. Ich meine, ein langes Leben wäre ein besserer Lohn für eure Treue.«
»Diese Ansicht teilen viele Menschen. Und glaube nicht, mein Leben wäre mir nicht kostbar. Aber im Gegensatz zu jenen, die den Wandel erleben, werde ich niemals Rechenschaft über meine Vergehen ablegen müssen, nie einen Makel tragen. Das unsterbliche Leben meiner Seele nach dieser Welt wird dadurch umso schöner sein.« Im weichen Zwielicht wirkte ihr Gesicht sehr friedvoll.
Tahn prägte sich dieses Bild von ihr ein, um den Augenblick in seinem Gedächtnis festzuhalten.
»Vielleicht denkst du daran, Tahn, wenn der Sheson dich ermahnt, deine Entscheidungen sehr umsichtig zu treffen. Du wirst den Wandel durchmachen und danach weiterleben. Eines kann ich dir sagen: Dass wir dich aufgesucht haben, hat viel damit zu tun, deine Seele so makellos und rein zu erhalten wie möglich.« Sie wandte den Blick einen Moment lang von dem Vogel ab und sah Tahn an, um ihre Worte zu unterstreichen.
Er hatte noch nie so mit einem Mädchen oder einer Frau gesprochen, außer vielleicht mit Wendra. »Woher soll ich wissen, was ein Makel ist?«
Sie lächelte ein drittes Mal – ein Lächeln, in dem er glaubte (und hoffte), intime Andeutungen zu erkennen. »Ein Makel oder Fleck hat viel damit zu tun … was man grundsätzlich für richtig hält.«
Ohne darüber nachzudenken, küsste er Mira. Das gibt keinen Makel , dachte er. Und in diesem Moment pochte sein Herz so heftig wie noch in keinem anderen Augenblick seines Lebens, an den er sich erinnern konnte. Dieser Moment war all die Verlegenheit wert, die danach folgte, denn er fand nicht die passenden Worte, um sie diesem Kuss hinterherzuschicken.
Mira ihrerseits wich nicht zurück, sondern erwiderte seinen Blick mit einer Mischung aus Verständnis, Anerkennung und Belustigung – aber die schien ihm nicht
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