Das Gewölbe des Himmels 2: Der Unrechte
darüber verfügen konnte. Er ballte die Faust und setzte sich gerader hin. »Die Nacht, die wir im Haus des Ligaten verbracht haben«, sagte Sutter langsam. »Erinnerst du dich daran?«
»Natürlich. Du hast die halbe Nacht im Fieberwahn unter deinem Bett gekauert.«
Sutter verbesserte ihn: »Das war kein Fieberwahn. Ich weiß nicht, was es war, Tahn. Ich war nahe am Einschlafen, aber noch wach, als mir kalt zu werden begann. Ich stand auf, um das Fenster anzulehnen. Als ich zum Fensterbrett kam, erhob sich aus der Dunkelheit hinter dem Glas ein Gesicht.«
»Es ging dir ziemlich schlecht«, wandte Tahn ein. »Hast du vielleicht dein Spiegelbild gesehen?«
»Das dachte ich zuerst auch. Ich erinnere mich sogar noch, wie ich über mich gelacht habe, weil mein eigenes Spiegelbild mich so erschreckt hatte … Bis ich mich dann bewegte und das Bild es nicht tat.«
»Aber das klingt alles nach einem Fiebertraum, Rübenbauer«, gab Tahn zu bedenken. »Du könntest es dir nur eingebildet haben, um dann am Ende aus dem Bett zu fallen und unter die Matratze zu rollen.«
Sutter starrte ihn an; sogar jetzt noch fürchtete er sich davor, es laut auszusprechen. »Das Gesicht, das ich in jener Nacht durchs Fenster gesehen habe, gehörte der Frau, die man am nächsten Tag verbrannt hat.«
Sutters Gesicht erschlaffte, und Tahns Herz pochte heftig. Seine Gedanken überschlugen sich.
»Beim Himmel und Allwillen, Rübenbauer, bist du dir sicher?«
»So sicher, als wäre es meine eigene Mutter gewesen«, antwortete Sutter.
»Glaubst du, dass sie Lethur entkommen konnte, lange genug, um an unser Fenster zu gelangen und uns einen Schreck einzujagen?« Tahn war von seiner eigenen Erklärung nicht überzeugt.
»Das hätte ich mir vielleicht einreden können, bis ich die Geister zweier Spielleute in meiner Zelle im Solath Mahnus sah. Zwei Gesichter, Tahn … die gehängt wurden, nachdem ich eine Nacht unter ihren unwirklichen starren Blicken verbracht hatte.« Er schaute Tahn an. »Ich sehe die Toten, bevor sie in die Erde zurückkehren. Und das macht mir Angst, Tahn. Es macht mir Angst.«
Stille senkte sich über sie. Sutter wandte sich ab und sah nachdenklich in die Kälte der Morgendämmerung hinaus.
Tahn ergriff Sutters Hand erneut im Helligtalgriff und erntete einen Blick voll derart überwältigender Dankbarkeit, dass er beinahe in Tränen ausgebrochen wäre. Sutter wusste gewiss, dass Tahn ihm glaubte, ganz gleich, woran es lag, dass er die Dinge sah, die er sah.
Der Tod schritt mit ihnen zum Tillinghast.
»Das ist noch nicht alles, Tahn.« Sutter zog die Beine an die Brust und schlang sich die Arme um die Knie. Das Hohe Licht spendete weder seinem Körper noch seinen Gedanken Wärme. Ein leises Rascheln von Blättern, die sich in einer kalten Brise regten, raunte eine Warnung, als Sutter sich anschickte, Tahn den Rest zu erzählen.
Es war solch eine Bürde, die Verzweiflung, den Verlust, die Verwirrung und das Bedauern auf den Gesichtern dieser Penaebra zu sehen, die aufgrund ihres bevorstehenden Todes aus ihren Körpern verstoßen waren und von Sutter angezogen wurden. Würde diese Eigenschaft ihm für immer innewohnen? Wie sollte er damit leben? Wie sollte er je die Liebe finden und eine Familie gründen, wenn er wusste, dass er eines Tages ihre Seelen sehen würde, bevor sie starben, und dann diesen letzten Tag in dem Wissen, was kommen würde, mit ihnen würde verbringen müssen?
Und was war mit seinen Eltern, Filmoere und Kaylla, die ihm ein Leben und ein Zuhause geschenkt hatten? Sutter fürchtete sich schon jetzt vor dem Tag, an dem er Vorboten ihres Todes sehen und um sie trauern würde, obwohl sie noch lebten.
Es war zu viel.
Ich würde gern zu meinen Wurzeln zurückkehren. Einfach den Boden bestellen und den Fels der Erneuerung und alles andere zurücklassen. Keine entsetzlichen Wachträume mehr. Keine Schatten des Todes, die zu mir kommen. Nicht meine Freunde. Nicht meine Eltern …
Aber er packte fest Tahns Hand und blickte ihm in die Augen, als ob er irgendwo tief in seinem Innern glauben wollte, dass die Dinge, die er sah, sich ändern ließen. »Das Gesicht, das ich jetzt jede Nacht seit dem Solath Mahnus sehe … ist Mira.«
Tahn saß stumm da. Vergessen waren das vernarbte Mal auf seiner Hand – ein Brandmal, von dem er jetzt wusste, dass es den Kindern des Mals gehörte – und sein Unbehagen über die Geheimnisse, Vendanji und den Tillinghast. Seine Augen schmerzten von den schlaflosen Nächten
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