Das Glück der Familie Rougon - 1
brauchen nicht auch noch zu kommen und mich beschimpfen. Ich war durchaus guten Willens Ihnen gegenüber; da Sie aber unverschämt sind, tue ich nichts für Sie, gar nichts.«
Antoine wäre vor Wut fast erstickt.
»Und mein Geld«, brüllte er, »wirst du es mir wiedergeben, du Dieb, oder muß ich dich erst vor Gericht schleppen?«
Pierre zuckte mit den Achseln.
»Ich habe kein Geld von Ihnen«, entgegnete er, immer ruhiger werdend. »Meine Mutter hat über ihr Vermögen verfügt, wie es ihr paßte. Ich werde meine Nase nicht in ihre Angelegenheit stecken. Ich selber habe gern auf jede Aussicht auf eine Erbschaft verzichtet. Ich bin völlig gesichert vor Ihren schmutzigen Anwürfen.«
Und als sein Bruder, durch diese Kaltblütigkeit zum Äußersten gebracht, zu stottern anfing und nicht mehr wußte, was er glauben sollte, hielt ihm Pierre die Quittung unter die Nase, die Adélaïde unterschrieben hatte. Der Anblick des Schriftstückes gab Antoine den Rest.
»Es ist gut«, sagte er mit fast ruhiger Stimme, »ich weiß, was mir zu tun bleibt.«
In Wirklichkeit wußte er nicht, was er anfangen sollte. Daß es ihm unmöglich war, sofort ein Mittel zu finden, um zu seinem Erbteil zu gelangen und sich zu rächen, stachelte seine Wut noch mehr auf. Er ging zu seiner Mutter zurück und unterwarf sie einem schändlichen Verhör. Die unglückliche Frau konnte ihn nur wieder zu Pierre schicken.
»Glauben Sie vielleicht, ich lasse Fangball mit mir spielen?« schrie er frech. »Ich werde schon herausbekommen, wer von euch beiden den Zaster hat. Du hast ihn am Ende schon aufgefressen, was?«
Und mit einer Anspielung auf ihre frühere Liederlichkeit fragte er sie, ob sie etwa irgendein Mannsbild habe, dem sie ihre letzten Sous zustecke. Er verschonte nicht einmal seinen Vater, diesen Trunkenbold, den Macquart, wie er sagte, der sie gewiß bis zu seinem Tode ausgeplündert habe und seine Kinder als Bettler zurücklasse. Völlig verschreckt hörte ihm die arme Frau zu. Dicke Tränen rollten ihr über die Wangen. Sie verteidigte sich verängstigt wie ein Kind und antwortete auf die Fragen ihres Sohnes wie auf die eines Richters, schwor, daß sie sich jetzt gut aufführe, und wiederholte immer wieder mit aller Eindringlichkeit, daß sie nicht einen Sou bekommen und daß Pierre alles an sich genommen habe. Antoine glaubte ihr schließlich beinahe. »O dieser Lump!« knurrte er. »Deshalb also hat er mich nicht losgekauft.«
Er mußte bei seiner Mutter schlafen, auf einem Strohsack, der in eine Ecke geworfen wurde. Er war mit völlig leeren Taschen heimgekehrt, und was ihn so aufbrachte, war vor allem das Bewußtsein, keinerlei Hilfsquelle, weder Haus noch Herd zu haben, verlassen zu sein wie ein Hund auf der Straße, während sein Bruder seiner Meinung nach glänzende Geschäfte machte und ausgiebig aß und schlief. Da er nichts besaß, um sich Kleidung zu kaufen, ging er am nächsten Morgen in seiner Militärhose und seinem Käppi aus. Glücklicherweise fand er unten in einem Schrank eine alte, abgetragene und geflickte Weste aus gelblichem Samt, die Macquart gehört hatte. In diesem seltsamen Aufzug lief er durch die Stadt, erzählte überall seine Geschichte und forderte Gerechtigkeit.
Die Leute, die er um Auskunft anging, empfingen ihn mit einer solchen Verachtung, daß er Tränen der Wut vergoß. In der Provinz hat man kein Erbarmen mit heruntergekommenen Familien. Man war allgemein der Ansicht, daß sich die RougonMacquarts ihrer Vorfahren würdig erwiesen, indem sie sich gegenseitig vernichteten; statt die Kämpf enden zu trennen, hätten die Zuschauer sie am liebsten noch mehr aufeinandergehetzt. Pierre begann übrigens, sich vom Makel seiner Herkunft zu reinigen. Man lachte über seine Spitzbübereien, manche Leute gingen sogar so weit zu behaupten, er habe gut daran getan, wenn er sich tatsächlich des Geldes bemächtigte, und die Liederjane der Stadt sollten eine Lehre daraus ziehen.
Antoine kam entmutigt nach Hause. Ein Rechtsanwalt hatte ihm mit angeekelter Miene den Rat gegeben, seine schmutzige Wäsche innerhalb der Familie zu waschen; vorher hatte er sich geschickt danach erkundigt, ob Antoine das nötige Geld besäße, einen Prozeß zu führen. Nach Ansicht dieses Mannes schien die Angelegenheit recht verwickelt zu sein; es würde langwierige Verhandlungen geben, und der Ausgang sei ungewiß. Überdies brauche man Geld dazu, viel Geld.
An diesem Abend verfuhr Antoine noch härter mit seiner Mutter. Da er
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