Das Glück der Familie Rougon - 1
SainteRoure, das noch etwa zehn Meilen entfernt lag, und die Aussicht auf diesen langen Marsch hatte sie veranlaßt, trotz der vorgerückten Stunde in die Stadt einzudringen. Es mochte jetzt eine halbe Stunde vor Mitternacht sein.
Als Herr Garçonnet erfuhr, daß die Schar Lebensmittel verlangte, erbot er sich, welche zu beschaffen. Dieser Beamte bewies unter den schwierigen Umständen ein sehr klares Verständnis für die Lage. Diese dreitausend hungrigen Menschen mußten satt gemacht werden; Plassans durfte sie beim Erwachen nicht mehr auf den Bürgersteigen seiner Straßen sitzend vorfinden. Wenn sie noch vor Tagesanbruch weitermarschierten, so würden sie nur wie ein böser Traum durch die schlafende Stadt gezogen sein, wie ein Alpdruck, den das Morgenrot verscheucht. Obwohl er Gefangener blieb, klopfte Herr Garçonnet, von zwei Wächtern begleitet, an die Türen der Bäcker und ließ sämtliche Vorräte, deren er habhaft werden konnte, an die Aufständischen verteilen.
Gegen ein Uhr hockten die dreitausend Mann, ihre Waffen zwischen die Beine geklemmt, auf dem Boden und aßen. Der Markt und der Rathausplatz waren in riesige Speisesäle verwandelt. Trotz der scharfen Kälte herrschte hier und dort gute Laune in dieser wimmelnden Menge, deren kleinste Gruppen sich im klaren Mondlicht deutlich abhoben. Die armen ausgehungerten Menschen verzehrten fröhlich ihren Anteil und bliesen sich dabei in die Hände, und auch aus der Tiefe der benachbarten Gassen, wo man schwarze Gestalten auf den weißen Häuserschwellen sitzen sah, drang plötzliches Gelächter, das aus dem Dunkel rollte und sich in dem großen lärmenden Haufen verlor. Aus den Fenstern schauten mutig gewordene Neugierige, biedere Frauen in Kopftüchern, zu, wie diese schrecklichen Aufrührer ihr Brot verzehrten, wie diese Blutsäufer einer nach dem anderen zur Marktpumpe gingen, um aus der hohlen Hand zu trinken.
Zur gleichen Zeit, als das Rathaus besetzt wurde, fiel das Gendarmeriegebäude, das zwei Schritt entfernt in der zur Markthalle führenden Rue Canquoin gelegen war, ebenfalls in die Hand des Volkes. Die Gendarmen wurden im Bett überrascht und in wenigen Minuten entwaffnet. Die Bewegung der Menge hatte auch Silvère und Miette nach hier mitgerissen. Das Mädchen, das immer noch den Fahnenschaft gegen die Brust gepreßt hielt, wurde an die Mauer der Unterkunft gedrückt, während der Bursche, vom Menschenstrom getragen, in das Innere des Gebäudes drang und dort seinen Kameraden half, den Gendarmen die Karabiner zu entreißen, die sie in aller Eile ergriffen hatten. Silvère, der, berauscht von der Begeisterung der Menge, fast toll geworden war, packte einen großen, starken Gendarmen namens Rengade, mit dem er einige Augenblicke kämpfte. Mit einer plötzlichen Wendung gelang es ihm, dem Mann seinen Karabiner wegzunehmen. Dabei traf der Lauf der Waffe heftig Rengades Gesicht und stieß ihm das rechte Auge aus. Das Blut floß; es bespritzte Silvères Hände, der plötzlich nüchtern wurde. Er blickte auf seine Hände und ließ den Karabiner fahren; dann rannte er kopflos hinaus und schüttelte seine Finger.
»Bist du verwundet?« schrie Miette.
»Nein, nein«, antwortete er mit erstickter Stimme, »ich habe soeben einen Gendarmen getötet.«
»Ist er wirklich tot?«
»Ich weiß nicht, sein ganzes Gesicht war voll Blut. Komm schnell!«
Er zog das junge Mädchen mit sich. Bei der Markthalle angekommen, hieß er sie, sich auf eine Steinbank setzen. Hier sollte sie auf ihn warten. Er schaute immer noch auf seine Hände und stammelte etwas. Miette entnahm schließlich diesen unzusammenhängenden Worten, daß er schnell zu seiner Großmutter laufen wolle, um sie vor dem Abschied noch einmal zu umarmen.
»Nun, so geh«, sagte sie. »Sorge dich nicht um mich. Wasch dir die Hände!«
Er rannte davon, immer noch mit gespreizten Fingern, ohne daß ihm der Gedanke gekommen wäre, sie in einen der Brunnen zu tauchen, an denen er vorüberkam. Seit er das warme Blut Rengades auf seiner Haut gespürt hatte, trieb ihn nur noch ein einziger Gedanke: zu Tante Dide zu laufen und sich die Hände im Brunnentrog hinten im kleinen Hof zu waschen. Nur dort glaubte er dieses Blut abspülen zu können. Seine ganze friedliche, zärtliche Kindheit erwachte in ihm; er empfand ein unwiderstehliches Bedürfnis, sich in die Röcke seiner Großmutter zu flüchten, und wäre es auch nur für eine Minute. Außer Atem kam er an. Tante Dide lag nicht zu Bett, was Silvère zu
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