Das Glueck einer einzigen Nacht
Marvins und ihr Leben miteinander verschlungen zu sein. Sie waren durch ihre Schuldgefühle aneinander gefesselt, Danny und Edward waren mit in den Strudel gerissen worden.
Abrupt hielt Barbara die Schaukel an, stand auf und ging zum Verandageländer.
Was immer auch die Zukunft für sie bereithielt, sie durfte die Vergangenheit nicht vergessen.
Das Motorgeräusch des Jeep riß sie aus ihren Grübeleien. Sie mußte vorsichtig sein, durfte sich ihre nachdenkliche Stimmung nicht anmerken lassen. Bremsen quietschten, zwei Wagentüren wurden zugeschlagen, und kurz darauf standen ihr quirliger Sohn und sein nachsichtig lächelnder Begleiter vor ihr.
„Marvin ist der beste Schütze in der ganzen Gegend“, prahlte Danny. „Aber ich sage dir, mit einem bißchen Übung werde ich ihn bald übertreffen.“
„Du bist ja sehr bescheiden!“ Mit einem belustigten Lächeln schaute sie Marvin vielsagend an, der ihren Blick erwiderte.
„Wollen wir etwas essen?“ Marvin legte dem Jungen den Arm um die Schulter und ging mit ihm ins Haus.
„O ja! Ich bin so hungrig, daß ich eine doppelte Portion Nachtisch vertragen könnte“, erklärte Danny großspurig, was seine Mutter zu einem mißbilligenden Kopfschütteln veranlaßte.
„Das werden wir ja sehen“, zog Marvin ihn auf, während er seine Gäste durch die Eingangshalle zum Eßzimmer führte.
„Mensch! Das ist vielleicht ein Haus!“ staunte Danny. „Wohnst du ganz allein hier, Marvin?“ Er ließ sich auf einen der viktorianischen Stühle fallen und betrachtete den enormen Kristallüster, der an der Decke hing.
„Im Moment ja“, sagte Marvin schließlich nach einer langen Pause, in der er Barbara einen forschenden Blick zugeworfen hatte. „Meine Mutter liegt im Krankenhaus und darf erst in einer Weile wieder nach Hause.“
„Und dein Bruder? Du hast mir doch von ihm erzählt. Der, der sein Remington
Gewehr nicht mehr benutzt. Wohnt er denn nicht hier?“ Barbaras Gesicht wurde schneeweiß. Kraftlos sank sie auf einen Stuhl. Diesmal wich Marvin ihrem Blick aus, als er Danny ganz ruhig antwortete.
„Er wohnt schon lange nicht mehr hier, Danny. Und jetzt werde ich mich erst einmal um das Essen kümmern.“ Damit öffnete er die Flügeltüren und verschwand.
Danny blieb auf seinem Stuhl sitzen, baumelte mit den Beinen und betrachtete die Porträts, die rundum an den Wänden hingen. Barbara rieb sich die schmerzenden Schläfen und versuchte, ihre quälenden Erinnerungen zu verdrängen.
Nach kurzer Zeit kam Marvin zurück, und es gab ein Festmahl, ganz auf den Geschmack eines kleinen Jungen abgestimmt: gegrillte Hamburger, knusprige Pommes frites, CocaCola und warmen Kirschstrudel.
Voller Schuldgefühle beobachtete Barbara, wie ihr Sohn Marvins Kochkünste und Marvins Unterhaltung gleichermaßen genoß. Danny war hingerissen von seinem neuen Freund. Er hing an seinen Lippen und himmelte ihn mit bewundernden Bücken an. Und was Barbara noch mehr bedrückte, war Marvins spontane Zuneigung dem Jungen gegenüber. Sie zweifelte keinen Augenblick daran, daß er jede freie Minute mit den Vorbereitungen für diesen Tag verbracht hatte.
Traurig blickte sie auf ihren Teller. Wie schön wäre es gewesen, wäre Edward jetzt bei ihnen, freute sich mit ihnen über diesen schönen Tag. Wie schön wäre es, wenn Marvin wüßte, daß Danny sein Sohn ist, wie erleichtert wäre sie, wenn sie ihr Schweigen brechen und all die verlorenen Jahre mit einem Wort zurückholen konnte. Wenn… Aber Wunschdenken brachte sie leider nicht weiter.
„Habe ich nicht recht, Barbara?“ drang plötzlich Marvins Stimme an ihr Ohr.
„Wie bitte? Entschuldige, ich muß geträumt haben.“ Marvin schaute sie einen Moment prüfend an, bevor er seine Frage wiederholte.
„Stimmt es nicht, daß das Echo vom Old Baldy zwei Meilen weit zu hören ist?“ Barbara nickte und schaute zum Fenster hinaus auf den sagenumwobenen Berg.
Sogar mittags noch war sein kahler Gipfel in Nebelschwaden gehüllt. Warum erinnerte sein Anblick sie nur an ihre eigene Maskerade? Und warum konnte sie ihre Schuldgefühle nicht loswerden?
Erschrocken fuhr sie zusammen, als Marvin ihr die Hand auf die Schulter legte.
„Fühlst du dich nicht wohl?“ Seine Stimme klang völlig unbeteiligt, doch seine Berührung war sanft und liebevoll.
„Es geht mir ausgezeichnet“, log sie. Ihr Blick fiel auf Dannys leeren Stuhl. „Wo ist er denn jetzt schon wieder hingerannt?“ seufzte sie.
„Er wartet draußen bei den Ställen
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