Das Glück eines Sommers
schaute sich zum ersten Mal seit Monaten im Spiegel an. Es war kein schöner Anblick. Er sah nicht aus wie vierunddreißig, eher wie vierundachtzig. Ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit überkam ihn. Er machte sich nur etwas vor. Doch als er sich im Spiegel betrachtete, hörte er eine vertraute Stimme in seinem Kopf.
Du schaffst das, Jack.
Die Stimme gehörte Lizzie. Natürlich konnte es nicht sein, und doch war es so.
Jack schloss die Augen.
»Wirklich?«, fragte er.
Ja, antwortete sie. Du musst, Jack. Für die Kinder.
Jack stolperte zum Bett zurück und legte sich hin. Hatte Lizzie wirklich zu ihm gesprochen? Er wusste es nicht. Natürlich war das unmöglich. Aber was zurzeit mit ihm geschah, war genauso unmöglich.
Er schloss die Augen, beschwor Lizzies Bild herauf und lächelte.
In der nächsten Nacht hörte er das Quietschen der Bahre. Der Patient nebenan musste nicht mehr leiden. Er war jetzt an einem besseren Ort. Jack hatte den Mann, einen Prediger, mit der Bibel in der Hand durch den Flur gehen sehen. Ein besserer Ort. Doch Jack dachte nicht mehr ans Sterben. Zum ersten Mal seit Verkündung seines Todesurteils konzentrierte er sich auf das Leben.
Als die Uhr am nächsten Tag Mitternacht anzeigte, stemmte Jack sich aus dem Bett und ging durchs Zimmer, wobei er sich mit einer Hand an der Wand abstützte. Er fühlte sich schon kräftiger, und seine Lunge arbeitete wieder einigermaßen normal. Es war, als würde sein Körper sich von Minute zu Minute selbst heilen. Jack hörte ein Grummeln im Bauch. Erst jetzt wurde ihm klar, dass er Hunger hatte. Er wollte keine Flüssigkeit mehr eingespritzt bekommen. Er wollte richtiges Essen. Essen, das man riechen und schmecken konnte.
Immer wieder kniff er sich in den Arm, um sich zu überzeugen, dass er nicht träumte. Aber es war kein Traum. Es war nicht bloß Einbildung. Es war real.
Nein, nicht einfach nur real.
Es war ein Wunder.
KAPITEL 11
Zwei Wochen vergingen. Jack feierte seinen fünfunddreißigsten Geburtstag mit einer Gewichtszunahme von zwei Kilo und dem völligen Verzicht auf zusätzliche Sauerstoffzufuhr. Doch Wunder hin oder her – er hatte noch einen weiten Weg vor sich, denn im Laufe der Monate war sein Körper verkümmert. Er musste wieder zu Kräften kommen und weiter an Gewicht zulegen. Mehrere Stunden am Stück saß er im Stuhl, und mit einer Gehhilfe schaffte er es sogar regelmäßig allein bis ins Badezimmer.
Dinge, die Jack – wie die meisten Menschen – stets als selbstverständlich betrachtet hatte, stellten auf einmal bemerkenswerte Siege auf dem Weg zur vollständigen Gesundung dar. Er konnte wieder eine Gabel in der Hand halten und damit feste Nahrung zu sich nehmen. Er wusch sich selbstständig das Gesicht und benutzte die Toilette anstatt der Bettpfanne. Er konnte seine Zehen berühren und sein Gesicht im Spiegel sehen.
Die Angestellten des Hospizes waren äußerst hilfsbereit gewesen, nachdem klar geworden war, dass Jack sich erholte. Wahrscheinlich waren sie glücklich darüber, dass endlich ein Patient dieses Haus nicht auf einer Bahre verließ.
Bei jeder Gelegenheit rief Jack seine Kinder auf dem alten Handy an. Jackie plapperte so viel und schnell, dass man ihn kaum verstehen konnte. Doch Jack fühlte, dass seine älteren Kinder sich fragten, was los war.
»Kannst du zu uns ziehen, Dad?«, wollte Cory wissen.
»Wir werden sehen, Kumpel«, antwortete Jack. »Wir wollen nichts überstürzen.«
Mit Hilfe der Mitarbeiter im Hospiz konnte Jack seine Kinder über Skype auch auf dem Laptop sehen, den einer der Haustechniker ihm gebracht hatte. Cory und Jackie freuten sich unbändig darüber, dass ihr Dad wieder besser aussah. Mikki war zurückhaltender und vorsichtiger als ihre Brüder, doch Jack spürte deutlich, dass auch sie neugierig war.
»Du klingst kräftiger, Dad«, sagte sie.
»Ich fühle mich auch besser.«
»Heißt das …?« Sie hielt inne. »Ich meine, wirst du …?«
Auch wenn Jack glaubte, ein echtes Wunder zu erleben, fürchtete er sich davor, dass seine Erholung nur vorübergehend sein könnte. Und er wollte seine Kinder diesen Albtraum nicht noch einmal erleben lassen. Aber das bedeutete nicht, dass er nicht mit ihnen sprechen oder sie sehen durfte.
»Ich weiß es nicht, Liebling. Ich versuche es herauszufinden.«
Einmal war Bonnie auf dem Computerbildschirm erschienen, nachdem Mikki das Zimmer verlassen hatte. Sie war sehr viel direkter gewesen und hatte kurz und knapp gefragt: »Was ist hier
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