Das Glück geht nicht zu Fuß: Wie mein Leben ins Rollen kam (German Edition)
rollte links herum und rechts herum, meine Füße standen fest auf dem Fußbrett, wohin ich sie gehoben hatte, und ich wedelte mit den Armen. Nein, es war anders als früher. In Freiberg hatten wir die Leute unterhalten. Heute stellte ich mich einer Jury, die mich bewertete.
Nach dem Tanz wurde jede von uns interviewt. Das war noch schlimmer. Reden! Doch ich war meinem Hotelbett schon ein Stück näher gekommen. Ich würde auch das schaffen. Was heißt da würde. Ich musste! Mir blieb keine Wahl. In einer Reihe standen wir zu dritt auf der Bühne. Bestimmt fängt die Moderatorin auf der anderen Seite an, schoss es mir durch den Kopf. Viele Leute beugen sich lieber nach links als nach rechts.
»Ines, Sie haben Ihren Sohn mit dabei?«, eröffnete die Moderatorin die Runde mit mir.
»Der liegt hoffentlich schon im Bett und schläft«, erwiderte ich. Nicht gerade brillant, aber so war es nun mal.
»Und wie findet er es, dass seine Mama heute Abend hier teilnimmt?«
»Super findet er das. Und er drückt mir auch ganz fest die Daumen, denn wenn ich gewinne, kriegt er einen Trettraktor.«
»Einen bitte was?«
»Einen Trettraktor. Ein Nachbarsjunge hat so einen. Tim fand dieses Gefährt schon als kleiner Wurzelzwerg super. Da wäre er noch gar nicht runter zu den Pedalen gekommen. Doch jetzt ist er groß genug dafür, und wenn es gut für mich läuft, kriegt er seinen Trettraktor.«
Der Trettraktor sorgte für einige Erheiterung im Publikum, und die Moderatorin blieb beim Thema Mutter, worin ich mich sattelfest fühlte. Auf einmal war das Gespräch beendet. Ich konnte es kaum fassen, als meine Nachbarin an die Reihe kam. Den Trettraktor wurde ich nicht mehr los. In vielen Interviews sprach man mich darauf an. Er ratterte wie ein Running Gag durch die Veranstaltung.
Nach der Pause im zweiten Teil der Veranstaltung traten wir in Abendgarderobe auf. Die Musik war ruhiger, unsere Choreographie langsamer. Ich war nicht hundertprozentig mit meinem Kleid zufrieden, es lag sehr eng an, dennoch fühlte ich mich etwas entspannter.
Zur Jury gehörte auch das amerikanische Model Bruce Darnell. Ich kannte ihn von Germany’s Next Topmodel und war überrascht, dass er noch größer und dünner war, als ich vermutet hatte. Bruce unterhielt das Publikum, während die Jury sich beriet. Auf einmal wollte ich gewinnen. Für Tim. Obwohl er den Trettraktor auf jeden Fall kriegen würde.
Insgesamt wurden vier Preise vergeben. Platz 1 bis 3, zusätzlich ein Sonderpreis der Naturkosmetikfirma Logona, der kurzfristig ausgeschrieben worden war. Endlich kam die Jury zurück. Wir Finalistinnen standen im Halbkreis auf der Bühne. Es war ziemlich eng, Rollstühle brauchen viel Platz. Der Moderator trat auf. Bla bla bla. Zuerst würde der Sonderpreis vergeben. Bla bla bla. »Wir haben uns für Ines entschieden.«
Huch! Hilfe! Das bin ich!
Wie in Trance rollte ich ins Rampenlicht. Der Moderator überreichte mir eine Einladung zu einem Foto-Shooting, gratulierte mir, und ich rollte zurück zu meiner Herde. Ein paar Minuten bekam ich gar nichts mehr mit. Ich war perplex. Ich hatte tatsächlich einen Preis gewonnen! Und das Tollste: Ich gewann ihn nicht als Miss Rollstuhl. Ich hatte mit meinem Gesicht gewonnen! Ich würde mit meinem Gesicht und meinen Haaren für die Produkte dieser Marke werben. Ich hatte einen Job. Einen Model-Auftrag! Cool!
Der dritte Preis wurde vergeben. Nur interessehalber spitzte ich die Ohren. Ich rechnete nicht damit, zwei Preise abzusahnen, aber wenn ich schon mal da war … Ich spitzte auch die Ohren beim zweiten und ersten Preis, und obwohl ich so glücklich über meinen Sonderpreis war, versetzte es mir doch einen kleinen Stich, nicht zu den drei Siegerinnen zu gehören. Ich hatte Höhenluft gewittert und Spaß am Gewinnen gefunden. Ich bin ein ehrgeiziger Typ und verliere nicht gern. Doch in Wirklichkeit hatte ich auf ganzer Linie gewonnen, wie ich nach und nach begriff. Denn der Sonderpreis blieb von den Konditionen des Vertrags unberührt. Ich konnte frei entscheiden, was ich tun und lassen wollte. Ich musste der Agentur keine Rechenschaft ablegen, wie ich mich frisierte, mit welchen Medien ich sprach, wie ich mich kleidete, und ihr auch keine Provision abtreten. Hätte es besser laufen können für mich? Nein!
Zum Glück hatte ich vorher schon eine Homepage eingerichtet. Jetzt hätte ich keine Zeit mehr dafür gefunden. Der Medienansturm war gewaltig und dauerte bis Weihnachten. Später fanden die ersten
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