Das Glück wartet in Virgin River
ich ihm trauen kann. Er ist ganz schön jähzornig, und da braucht es nicht viel, bis bei ihm die Sicherung durchbrennt.“
„Warum ist er so? So nervös und launenhaft.“
„Da könnte es viele Gründe geben“, antwortete Clay achselzuckend. „Ich weiß allerdings, dass er diesen Unfall hatte. Er ist in eine Baugrube gefallen und wurde erst nach Stunden gerettet. Ich glaube, er ist fast verrückt geworden, als er versucht hat, sich alleine zu befreien. Er ist schließlich mit einem Kran herausgehoben worden. Man kann ein Hengstfohlen nicht nachts im Dunkeln in die Luft hieven, ohne mit Nachwirkungen zu rechnen. Er ist neurotisch, weiter nichts. Was unterscheidet ihn da schon groß vom Rest der Welt? Alles, was er braucht, ist Verständnis.“
„Das ist alles? Verständnis?“
„Etwas Erfahrung mit Pferden kann natürlich auch nicht schaden. Es sind Pferde wie er, die in mir den Wunsch wecken, mein Bestes zu geben. Er ist klug und alt genug, um zu lernen, wie er sich seinen Ängsten stellen und sie überwinden kann. Im Augenblick ist er schwer zu handhaben, aber wenn man ihn in den Griff bekommt, wird er eine unvorstellbare Kraft und Anmut haben. Mit zwei Jahren ein Stockmaß von eins siebenundsechzig – das ist groß für einen Araber. Sanft ist er nicht. Aber es gibt viele Dinge, die ein energiegeladener Hengst schaffen kann, für die ein sanftes Pferd einfach nicht geeignet ist. Wie wir alle sind sie auch mit ihrer individuellen DNA ausgestattet.“
Dazu sagte Lilly nichts mehr. Nach einer Weile des Schweigens fragte er sie: „Wer hat Ihnen das Reiten beigebracht?“
„Mein Großvater und die Nachbarn im Reservat. Bis wir weggezogen sind, als ich dreizehn war, haben wir direkt neben einer großen Ranch gewohnt, mit deren Besitzern wir befreundet waren.“
Streak hörte auf, hin und her zu laufen, und begann langsam, im Trab immer größere Kreise zu ziehen. Als er sich dem Zaun näherte, schnalzte Lilly mit der Zunge und summte einen Ton,wobei sie die Hand in die Koppel hielt. Clay sah nur neugierig zu. Streak blickte ihn erwartungsvoll an, etwas, womit er erst in den letzten zwei Tagen begonnen hatte. Es geschah nicht sofort, aber bei der vierten oder fünften großen Runde verlangsamte das Pferd sein Tempo beträchtlich. Es warf den Kopf hoch und scharrte zweimal kurz mit den Hufen, dann ging es direkt auf Lilly zu.
Sehr leise, fast nur gehaucht, flüsterte Clay: „Unmöglich …“ „Hinter all diesen Temperamentsausbrüchen und der ganzen Aufregung ist er doch nur ein Baby“, sagte sie freundlich und streichelte Streak den Kopf und klopfte seinen Hals. „Du weißt zu genau, wie hübsch du bist. Das tut einem Mann nie gut… aber das wirst du noch lernen. Zuerst akzeptieren dich die Frauen, aber dann haben sie dich schnell durchschaut und du bist wieder allein. Schschsch. Viel zu attraktiv, als dir guttut. Du bist ein bisschen zu stark. Lass dir Zeit, kleiner Mann.“
Einen Moment lang überlegte Clay: Mit wem spricht sie? Mit ihm oder mir?
„Dem Pferd fehlt nicht viel, abgesehen davon, dass es sich mit seiner eigenen Kraft nicht recht wohlfühlt. Es braucht die richtige Hand, die es sanft kontrolliert. Es braucht eine Mami, die mit ihm umgehen kann.“
„Und ich dachte, es braucht einen guten Trainer …“
„Nun ja, sicher“, sagte sie und streichelte Streaks weiße Blesse. „Aber wie die meisten hübschen Jungs ist er sehr eingebildet und wird einen gut ausgebildeten Reiter brauchen. Er würde es vorziehen, frei herumzulaufen und sich nicht gängeln zu lassen. Er ist vom Geist der Jugend erfüllt.“
Einigermaßen überrascht starrte Clay sie an. „Woher wissen Sie das, Lilly?“
Sie konzentrierte sich wieder auf die Augen des Pferdes. „Wer sagt, dass ich das weiß? Es ist meine Meinung und ich könnte mich absolut täuschen. Er ist noch ein Kleinkind. Ein mehr als fünfhundert Kilo schweres zweijähriges Baby, das einem den letzten Nerv raubt. Er braucht eine gute Mutter, das ist alles. Eine starke Mutter mit sehr viel Liebe und einem eisernen Willen.Kann es vielleicht sein, dass er zu früh von seiner Mutter getrennt wurde?“
Nun war Clay völlig verblüfft. Es dauerte einen Moment, bis er die Frage beantworten konnte. „Ja, die Möglichkeit besteht“, sagte er schließlich.
„Aha. Sehen Sie, das haben wir im Reservat nie zugelassen.“ Sie schenkte Clay ein Lächeln, das ihr ganzes Gesicht veränderte, und es verschlug ihm die Sprache, als er erkannte, dass sie
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