Das göttliche Dutzend
konnte, sondern auch fähig war, vernünftige Gedanken zu fassen. Nachdem man seine Theorien öfter verlacht hatte, als er sich erinnern wollte, zögerte er, wenn es darum ging, sie zu äußern. Doch diesmal war es anders. Wenn der Großstadtprophet sie hören wollte …
Er holte Luft. »Die Gottheiten sind gekidnappt worden. Oder vielleicht auch gegottnappt.«
Die Menschen im Prophetensaal keuchten auf, und alle Blicke richteten sich auf Nee den Rausschmeißer.
»Was?« polterte Nee. »Also wirklich, wehe, ihr lacht; so was ist gemein.«
»Hätten Sie die Güte, es uns zu erklären?« bat Hauptmann Zuphall.
»Oh, aber ja doch, Euer Gnaden. Ähm, nun ja, es ist mein Beruf, Leute rauszuwerfen, wenn sie den Kellnerinnen zu nahe treten, nicht wahr? Ich schnapp sie mir und werf sie raus. Dabei schauen sie mich immer mit einem ›Ich-will-noch-nicht-gehen‹-Blick an.« Atemlose Stille herrschte, denn alle versuchten herauszukriegen, was Nee meinte.
»Die Typen, die durchs Fenster flogen, hatten alle diesen Ausdruck im Gesicht – also wollten sie nicht mit den Typen gehen, die das Loch gemacht haben, klar?«
Blitzartig wurde allen Anwesenden klar, daß die Fakten in der Tat ausnahmslos zu Nees Theorie paßten. Der alarmierte Gesichtsausdruck der Gottheiten, die unorthodoxe Methode ihres Entfernens – alle den Umständen entsprechenden Indizienfinger deuteten in die gleiche Richtung. Die Gottheiten waren tatsächlich entführt worden.
»Tja, was sagt ihr dazu?« fragte Nee der Rausschmeißer. »Oder habt ihr ’ne bessere Erklärung?«
Zuphall wünschte sich durchaus, er hätte eine gehabt. Sein Verstand saugte Nees Theorie auf, schob sie unter eine hypothetische Armbeuge und lief mit ihr davon, wobei ihm gleich ein ganzes Hundert Fragen einfielen. Einige davon waren folgende:
Spielt es eine Rolle, ob er recht hat?
Es hat doch keine Auswirkungen auf mich, oder?
Ich werde doch keinen körperlichen Schaden dadurch erleiden, oder?
Es kommt doch nicht zu einem grundlegenden Zerfall der axolotischen Gesellschaft, wenn alle erkennen, daß sie gar nicht in die Zukunft sehen können, oder?
Es kommt doch nicht zu einem plötzlichen Ausbruch von Aufruhr und wilder Panik, oder?
Es kommen doch nicht Hunderte während der Plünderungsorgien ums Leben, wenn die schreckliche Wahrheit erst einmal heraus ist, oder?
Kommt nicht alles darauf an, wer die Götter entführt hat?
Seine letzte Frage ließ in einem blasenplatzenden Schock akuten Begreifens die Eiswürfel eines ganzen Gletschers sein Rückgrat hinunterlaufen.
Auf diese Frage gab es nur zwei Antworten: Götter oder Teufel!
Und wenn die letzte Antwort die richtige war, mußten alle obigen Fragen fortan mit GROSSBUCHSTABEN geschrieben werden!
»Nun, was haltet ihr davon?« fragte Nee der Rausschmeißer erneut und zerrte Zuphalls Verstand wieder auf den Teppich zurück. »Habt ihr ’ne bessere Erklärung?«
Hauptmann Zuphall spielte mit seinen Fingern und holte tief Luft. »Ähm, tja, wissen Sie …« begann er mit überwältigender Zuversicht. »Ähm … Aha! Es waren die Götter; ja, sicher. Ich glaube nicht, daß wir uns wirklich um irgend etwas s … sorgen müssen. Ähm, wir wissen doch alle, wie geheimnisvoll und unerklärlich sie vorgehen. Oder nicht?«
Das Lächeln, das er auf seine faltige Miene zauberte, hätte gewiß von den tausend Gallonen Zuversicht, die sich dahinter verbargen, profitieren können.
»Was?« sagte jemand aus der Menge. »Wollen Sie damit sagen, es ist alles symbolisch gemeint oder so was?«
»Ähm … Ich nehme an, ich …« hauchte Zuphall, den die Zuversicht rapide verließ. Dies war ein Gebiet, in dem er sich nicht im geringsten auskannte. Prophetische Vorhersagen? Kein Problem. Aber hypothetische Extrapolationen, die auf Hörensagen und Augenzeugenberichten basierten … Das war ein vertracktes Gebiet, dem man lieber fernblieb. Es war zu wahrscheinlich, daß man erwischt wurde, wenn die Antwort nicht stimmte.
»Gibt es deshalb ein Bild der Typen, die durch das Dach gekommen sind, in den Schnitzereien an der Seite eures Tisches?« fragte Ghorch Vogg und deutete auf eine Ansammlung von Gestalten.
»Was?!« schrie Zuphall. Er schwang in einem für ihn ungewöhnlichen Akt verzweifelter Tollkühnheit seine Knie, sprang vom Tisch herunter und stierte mit heftig pochendem Herzen die Zeichnung am Ende von Voggs Fingerspitze an. Wenn es stimmte, dann wußte er eins: Er würde seine Knie ohnehin bald nicht mehr brauchen.
Zuphalls
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